Eine sehr flexible Systemfrage

Lucien Favre

Lucien Favre

Genau genommen gibt es seit 1958 kein neues System mehr.

von Lucien Favre

über die Dominanz der Lateinamerikaner

Lateinamerikanische Dominanz? Überrascht mich nicht so sehr. Die Mannschaften sind taktisch gut ausgebildet, sie spielen mit großer Leidenschaft und kommen am besten mit den klimatischen Bedingungen zurecht. Das sind ja manchmal drei Spiele in einem, wenn es heiß anfängt, dann plötzlich regnet und sich anschließend drückende Schwüle über den Platz legt.

Ohne Fitness ist alles nichts, aber natürlich ist Fitness nicht alles. Jetzt sind wir wieder bei der Taktik: Es gibt bei dieser WM keine großen taktischen Überraschungen, das wird auch niemand ernsthaft erwartet haben. Genau genommen gibt es seit 1958 kein neues System mehr. Das revolutionäre Element der Zukunft heißt Flexibilität. Die Fähigkeit, ansatzlos von einem ins andere System zu wechseln, um den Gegner aus dem Konzept zu bringen.

Das funktioniert bei den Lateinamerikanern sehr gut, etwa das Switchen von einem 3-5-2 auf ein 3-4-2-1. Es gab schon Spiele in der Vorrunde, da hat eine Mannschaft 30 Minuten lang richtig Tempo gemacht, und diese 30 Minuten waren entscheidend. Das wirkt optisch vielleicht so, als wäre diese Mannschaft über 90 Minuten Tempo gegangen, aber das täuscht. Auch die Chilenen hatten bei ihrem großartigen 2:0 über Spanien Ruhephasen, aber die blendet man in der Nachbetrachtung gerne aus, weil die Tempointervalle zwischendurch so beeindruckend waren.

Mich haben da besonders die Mexikaner beeindruckt. Ich hatte sie nicht so stark erwartet, aber sie spielen sehr attraktiv und mit viel Mut, dazu mit hoher taktischer Disziplin und Flexibilität. Deswegen bin ich sehr gespannt auf das Achtelfinale gegen die Niederlande. Mexiko lebt von der mannschaftlichen Geschlossenheit, die Niederländer von ihrer Konterstärke und der individuellen Stärke vor allem von Arjen Robben, aber auch von Robin van Persie.

Etwas enttäuscht bin ich von den Argentiniern, von denen viele dachten, sie wären das stärkste südamerikanische Team. Das sind sie bisher ganz bestimmt nicht. Trotz Lionel Messi und Angel di María. Die Mannschaftsteile harmonieren noch nicht miteinander, mit den drei Gegentoren in der Vorrunde waren die Argentinier noch ganz gut bedient.

Deswegen traue ich meinen Schweizer Landsleuten eine Überraschung zu. Das Konterspiel hat zuletzt gegen Honduras mit Drmic und Shaqiri sehr gut funktioniert, so können sie auch Argentinien in Verlegenheit bringen. Aber ... so etwas Ähnliches habe ich auch schon vor dem 2:5 gegen Frankreich gesagt. Deshalb bleibe ich dabei: lieber kein Tipp!

Der Schweizer Lucien Favre ist Trainer beim deutschen Bundesliga-Klub Mönchengladbach, 2009 wurde er zum Trainer der Saison gewählt. Der 56-Jährige bevorzugt das Offensivspiel.

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