Als plötzlich alles anders war

Bernhard Hanisch

Bernhard Hanisch

Augen erweiterten sich zu Mittelkreisen. Staunen. Unklar, worüber zuerst.

von Bernhard Hanisch

über Pelé

Vater war streng. Bettruhe, ab in die Kabine, da konnte das in seinen letzten Zügen liegende Fußballspiel in der schwarz-weißen Flimmerkiste so unerträglich spannend sein, wie es wollte. Schlusspfiff – für den Alten ein im engsten Sinne auszulegender Begriff.

Dennoch geschah es eines Abends am Ende der Sechziger. Das Unfassbare, für alle restlichen Zeiten Einprägsame – nämlich der Befehl, sich augenblicklich aus den Federn zu bewegen und vor der laut hysterisch plärrenden Flimmerkiste Aufstellung zu nehmen.

"Schaut euch das an", brüllte der Alte und zwang sämtliche Blicke auf das ins Schwarz-Weiß gehaltene Geschehnis. Nein, es war tatsächlich kein Beckenbauer, Müller oder irgendein anderer, alleine wegen seiner deutschen Herkunft für außergewöhnlich zu befindender Spieler. Der Mann war schwarz, ließ seine Gegner reihenweise blöd aussehen, lief nicht, schwebte, tätschelte völlig gewaltfrei den Ball – seinen unübersehbar besten Freund – aus 50 Metern gegen die Querlatte. Das Weltwunder hieß Edson Arantes do Nascimento – Pelé.

Vater kicherte. "Ein Wahnsinn". Augen erweiterten sich zu Mittelkreisen. Staunen. Unklar, worüber zuerst. Über diese spielerische, bisher ungekannte, weil so entfernte brasilianische Fantasie? Oder doch über die kindliche Gefühlswallung des Alten, der völlig zu vergessen schien, dass die Hautfarbe dieses Verzauberers so gar nicht ins strikt eintönige Weltbild passte.

Spätestens jetzt wurde dem Europäer klar, dass der Fußball eine andere Dimension erreicht hatte. Ein auf Rasen zelebrierter Auffassungsunterschied, die Transformation der von Lockerheit und Verspieltheit geprägten Lebenseinstellung einer Nation. Kaum treffender nachzuschlagen in Brazil 2014 – Die WM im Land der Fußballverrückten: Es ist eine Art "Spitzentechnologie des Müßiggangs", in der Fußball und Musik die herausragenden Produkte sind. Jahrzehntelang hat das fasziniert und funktioniert.

Darum ist es gut, dass die WM wieder nach Brasilien kommt. Ins eigentliche Mutterland des Fußballs. Selbst Vater hat das kapiert.

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