Gänsehautmomente

"Tagebuch": Kann es danach überhaupt noch die imposante gelbe Wand in Dortmund oder den stimmungsvollen Block West in Hütteldorf geben?
Wolfgang Winheim

Wolfgang Winheim

Es war am Ostersonntag vor 75 Jahren ... als sowjetisches Granatfeuer den Himmel am südlichen Wiener Stadtrand rot färbte; als Sirenen heulten; und als im Prater trotzdem noch gekickt wurde.

Der WAC besiegte die Austria mit 6:0. „Wir haben noch wegen Abseits g’stritten“, erzählte Otto Fodrek, der am Ostersonntag (damals ein 2. April) aufseiten der Sieger mitgewirkt hatte und der nach dem vorzeitigen Schlusspfiff wegen Fliegeralarms weitergerannt war. Und zwar heim vom WAC-Platz in die Rueppgasse. Noch 71 Jahre lang, bis zu seinem Tod im April 2016, hat Fodrek dort gewohnt und ein Buch verfasst. Noch als 80-Jähriger war er Fitnesstrainer von Heinz Fischer gewesen, wie der Alt-Bundespräsident im Vorwort zu Fodreks Memoiren verriet.

Das letzte Match zehn Tage vor Kriegsende in Wien hatte 3.000 Zuschauer angelockt, „großteils Kriegsversehrte und Frauen. Sogar Eintrittsgeld ist verlangt worden.“

Abgestumpft durch Sorge und Leid sehnten sich die Menschen nach Ablenkung. Eine Erkenntnis, die sich auf die Gegenwart projizieren lässt. Weshalb gerade dort, wo Corona besonders wütet, Medien Sportbeiträge forcieren. Täglich erscheinen AS und Marca in Spanien mit bis zu 30 Fußball-Seiten plus Messi und Ronaldo als Dauergästen auf der Gerüchtebörse. Täglich beschäftigt die Mailänder Gazzetta dello Sport der Transfermarkt und die Frage, wann und wie die Serie A fortgesetzt werden kann.

Mit Geisterspielen bis zum Sommer beginnt man sich in den Fußball-Hochburgen abzufinden. Aber kann es danach überhaupt noch die imposante gelbe Wand in Dortmund oder den stimmungsvollen Block West in Hütteldorf geben, wo junge Menschen hautnah aneinanderkleben? Werden selbst die singenden Liverpool-Fans an der Anfield Road nicht mehr so dicht gedrängt sitzen dürfen?

Fußballfreunden graut vor der Vorstellung, dass aus dem Liverpooler „You’ll never walk alone“, bei dem selbst Gegner die Gänsehaut bekommen, ein „Forever walk alone“ wird.

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