Nachtwache
Wenn man nicht schläft, verschwimmen Tag und Nacht ineinander
Vier Stunden sind eine lange Zeit. Wenn ich vier Stunden schaffe, dann komme ich durch den nächsten Tag. Ich kann vielleicht keine langen Sätzen bilden oder im Bad 20 Längen schwimmen. Aber ich nehme den richtigen Bus, ich warte an der richtigen Haltestelle und obwohl ich etwas länger brauche als sonst, um über die Straße zu gehen, funktioniere ich doch ganz gut.
Vier Stunden Schlaf, das ist alles, was momentan geht. "Aber du hast doch keine Kinder, oder?", sagt die Frau beim Bäcker und es ist keine Frage, weil sie die Antwort ohnehin weiß, weil sie meinen Alltag kennt so wie ihren. Sie hat zwei Kinder, immer Probleme mit ihrem alten Auto und ihr Mann hat vor Kurzem mit dem Rauchen aufgehört. "Wahrscheinlich", sagt sie und packt ein Sonnenblumenweckerl ein, "ist es nur die Hitze." Ich nicke automatisch und murmle "ja, ja". So wie man immer zustimmend murmelt, wenn man dem anderen recht geben will, um einem Gespräch auszuweichen.
Aber ganz scheint sie es mir nicht abzunehmen, denn als ich gehe, wirft sie mir einen kritischen Blick zu. Einen, für den sie sich sonst selten Zeit nimmt. Meistens gar nicht nehmen kann. "Aber müd’ schaust aus und blass. Gehst heut ein bissel in die Sonne?!" "Ja, ja", sag ich und schon bin ich wieder draußen auf der Straße, auf der alle anderen schneller zu gehen scheinen als sonst und ihre Gespräche und der Autolärm dumpf an mein Ohr dringen, als hätte ich vergessen meinen Skihelm abzusetzen. Bei 30 Grad im Schatten.
Ohne Anfang und Ende
Wenn man nicht schläft, verschwimmen Tag und Nacht ineinander und werden zu einer einzigen Tageszeit, in der sich nur die Lichtverhältnisse ändern. Man stolpert so durch sie durch, ohne Anfang und Ende und macht die unsinnigsten Dinge, weil man sonst zu viel damit zu tun hätte, darauf zu warten, dass der Schlaf zurückkommt. Oder gegen ihn anzukämpfen, wenn er sich tagsüber zur unpassendsten Zeit plötzlich meldet.
Wenn ich nachts durch die Wohnung geistere, und dabei selbst aussehe wie ein Gespenst in meinem weißen T-Shirt, dann falte ich manchmal meine Wäsche. Das ist sehr beruhigend, weil jedes Wäschestück Kanten hat, einen Anfang und ein Ende. Oder ich putze meinen schwarzen Ledersessel, den ich mir vom ersten Lohn als Autorin gekauft hab und der seitdem in all meinen Wohnungen rumsteht, unbenützt, weil er zwar schön aber wahnsinnig unbequem ist.
"Schlafen kann ich, wenn ich tot bin", hat mein Vater immer gesagt, auch so eine Nachteule. Jetzt ist er schon zwei Jahre tot und ich würde ihn gerne so vieles fragen. Was er in den Nächten gemacht hat, während wir Kinder schliefen und warum er mir nicht etwas anderes vererben hätte können als seine Unruhe. Sein Talent fürs Zeichnen, seine Fähigkeit, das Leben leicht zu nehmen, oder seinen grünen Daumen.
Vielleicht vermisse ich ihn ja einfach noch immer sehr, weil zwei Jahre nicht lang sind im Vergleich zur ganzen Kindheit. Vielleicht muss ich mich damit abfinden, dass mein Leben auch nicht länger davon wird, dass ich die Nacht zum Tag mache. Vielleicht bliebe die Wäsche dann zwar ungefaltet, aber ich könnte morgens erholt und wach frühstücken. Auf meinem schwarzen Ledersessel. Das wäre doch ein schöner Neuanfang.
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