Henry Kissinger war als Berater und Außenminister vieler US-Präsidenten nicht unumstritten. Die einen schwärmten vom Architekten des Ausgleichs in Zeiten (und durchaus mit Mitteln) des Kalten Krieges, vom Denker über den Tellerrand des Tages hinaus. Die anderen geißelten ihn als kalten Machtpolitiker, der für den Zweck über Leichen ging, über viele Leichen, von Chile bis Kambodscha.
Aber was Kissinger zweifelsfrei war: Ein Realpolitiker, der im machtpolitischen Gleichgewicht die Basis für eine haltbare Friedensordnung sah. Der Berechenbarkeit und Stabilität in der Welt anstrebte – wohl wissend, dass Gesellschaften schnell und böse kippen können, wie er mehrfach schrieb.
Träumereien, ein Weltfriede könnte ohne Gleichgewicht erreichbar sein, ohne Einmischung, ohne Druck und gegebenenfalls Gewalt, erteilte der Mann, der den Vietnam-Frieden einleitete, die Sowjetunion in Abrüstungsverträge zwang und das Tor zu China öffnete, eine klare Absage. Die NZZ beschrieb anlässlich seines Ablebens, wie Kissinger Kritik eines Menschenrechtlers am US-Vorgehen in Links-Diktaturen in Lateinamerika oder in Kambodscha begegnete: Für „Menschenrechts-Kreuzzügler“ und Friedenaktivisten sei es einfach, von der Outlinie auf einer perfekten Welt zu insistieren; in der Realität müssten Politiker lernen, eher das Bestmögliche anzustreben als das vermeintlich Beste.
Kissinger, der über Metternich dissertierte, lebte mit der Herausforderung sowjetischer Weltmachtträume und der großen Unbekannten China. Die Herausforderungen heute sind noch einmal breiter: Chinas angestrebte Dominanz zugunsten der eigenen Wirtschaft, der mörderische Furor eines Nachwuchs-Stalins in Moskau, muslimischer Radikalismus und eine Völkerwanderung wie kaum zuvor.
Was in der turbulenten Zeitenwende gleich ist: Es gibt Feinde der westlichen Werte, die zu besiegen oder einzudämmen sind; und es gibt politische Konkurrenten/andere Systeme, mit denen Ausgleich, Stabilität, Berechenbarkeit anzustreben sind. Das ist nicht durch politisches Streicheln und Träumen zu erreichen. Sondern nur aus einer Position des Selbstbewusstseins und der Stärke heraus (ihr Fehlen in Europa hat Kissinger übrigens vielfach beklagt). Das wäre ein Vermächtnis, das lange bleiben sollte.
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