Was man vermisst

Jemanden zu vermissen heißt, dass einem etwas fehlt, von dem man es davor nicht wusste.
Barbara Kaufmann

Barbara Kaufmann

Jemanden zu vermissen heißt, dass einem etwas fehlt, von dem man es davor nicht wusste.

von Barbara Kaufmann

über das Vermissen.

Manchmal ist der Unterschied zwischen Film und Wirklichkeit ernüchternd. Wenn man sich zum Beispiel am Bahnsteig voneinander verabschiedet, weil der eine verreist und der anderen zurückbleiben muss.

Im Film sind solche Abschiedsszenen durchdrungen von einem stillen Pathos, einem leisen Schmerz, der sich in jeder kleinen Geste zwischen den Verliebten offenbart. Ein letzter Blick, ein langer Kuss, eine innige Umarmung. Dann geht er und sie bleibt allein zurück zwischen Ankommenden und Abreisenden, verloren in der Menge, so einsam, dass es wehtut. In der schnöden Wirklichkeit hetzt man ohne Musikuntermalung gemeinsam zum Bahnsteig, schleppt die Koffer hinauf und hinunter, bis man verschwitzt vor dem richtigen Abteil steht.

Schnell fragt man noch nach den wirklich wichtigen Dingen. „Hast du den Paß? Dein Handy? Das Aufladegerät?“
Taschen werden durchwühlt, weil Ausweis, Schlüssel oder Ticket plötzlich verschwunden sind. Und gerade als sie wieder auftauchen, im glücklichen Moment des Wiederfindens, muss man schon los. Ein letzter Kuss landet irgendwo zwischen Wange und Kapuzenpullover, die Türen schließen sich und schon ist der eine dahin. Der andere kämpft sich erschöpft durch das Gedränge bis zum Kaffeeautomaten in der Bahnhofshalle. Und erst während man dort zwischen Rucksacktouristinnen sitzt und auf das brauen Getränk im Plastikbecher vor sich starrt, das nie in die Nähe einer Kaffeebohne gekommen sein dürfte, erst dann, wenn da niemand ist, mit dem man sich gemeinsam beschweren könnte und darüber lachen, dass man es trotzdem immer wieder trinkt, erst dann merkt man, dass der andere fehlt.

Fast 60 Jahre

Als mein Großvater starb, blieb die Großmutter noch so lang es ging in dem gemeinsamen Haus wohnen, in dem sie fast sechzig Jahre miteinander verbracht hatten. Sie erzählte mir, dass sie nach seinem Tod nach Hause gekommen war, in den Garten geblickt und sich gewundert hatte. Weil er plötzlich anders aussah. Tagelang hatte sie überlegt, ob die Sträucher beschnitten worden waren, ob die Nachbarn, die sich um alles gekümmert hatten während sie im Krankenhaus bei ihm gesessen war, den Kirschbaum gestutzt, den Rasen gemäht oder neue Blumen gepflanzt hatten. Aber als die Großmutter sie fragte, schüttelten sie entrüstet den Kopf. Sie hätten alles so gelassen wie es immer gewesen war. Erst Wochen nach seinem Begräbnis bemerkte sie, was fehlte. Es war mein Großvater. Seine gebückte Gestalt, sein lautes Lachen, seine rote Kappe, die immer durch das Gebüsch geblitzt hatte. Da gab sie das Haus auf und zog ins Heim in die Stadt zu meiner Mutter. Jemanden zu vermissen bedeutet, dass einem etwas fehlt, von dem man sich davor nicht vorstellen konnte, wie sehr es einem einmal abgehen wird. Wenn man den anderen nach seiner Reise vom Bahnhof abholt, ist es wieder nicht so wie im Film. Man ist aufgeregt und müde zugleich, der Bus kommt nicht, die Koffer sind noch schwerer als beim Wegfahren. Aber wenn abends im Vorzimmer etwas klirrend zu Boden fällt, weil der andere seine Sporttasche wieder einmal mit einem Fußball verwechselt hat, dann merkt man erst, dass es viel zu still war in den letzten Tagen. Und ausnahmsweise freut man sich über den Lärm. barbara.kaufmann

barbara.kaufmann@kurier.at

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