Schnappschüsse und Schutzschilder

Muss man jeden Moment fotografieren und kann man ihn so wirklich festhalten?
Barbara Kaufmann

Barbara Kaufmann

Ich mag meine Fotos nicht. Mit ganz wenigen Ausnahmen.

von Barbara Kaufmann

über Schnappschüsse und Schutzschilder.

Am Dienstag Vormittag saß ich auf einer knarzenden Holzbank und hörte meiner Lieblingspfarrerin zu, die wie gewohnt zu einer leidenschaftlichen Predigt ansetzte, sie jedoch diesmal mit einem eindringlichen Appell begann. „Bitte“, sagte sie gleich zweimal hintereinander, „bitte legen Sie Ihr Handy weg. So können wir uns gegenseitig in die Augen sehen und zuhören, ohne abgelenkt zu sein.“

Zugegeben, ich hatte selbst vor Beginn des Gottesdienstes ein Foto von der wirklich bis auf den letzten Platz gefüllten Kirche gemacht. Immerhin ein sehr seltener Anblick. Deshalb ruhte mein Telefon in meiner Tasche. Ein paar Plätze neben mir saß ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen, das ihr Smartphone auf die Pfarrerin gerichtet hatte und zur Mutter, die neben ihr saß und es ihr aus der Hand nehmen wollte, leise flehend sagte: „Nur eines noch, bitte.“ Und es klang ein wenig wie ein frisch entwöhnter Nichtraucher, der um eine einzige Zigarette bittet. Ein Gefühl, das mir aktuell sehr vertraut ist.

Nur einen Tag später war ich beim Nick Cave Konzert. Ein Künstler, dessen Songs mich schon mein halbes Leben lang begleiten. Wenn ich nachrechne, sogar länger. Jedes Lied, das er anstimmt, steht für eine Lebensphase. Zimmer, in denen ich wohnte. Nächte, in denen ich tanzte. Für Menschen, die ich kannte. Manche sind noch da, manche weggezogen, manche für immer gegangen.

Ich stand in der Mitte der Halle und als das Konzert begann, versperrte mir ein Handy, das ein Mann direkt vor mir in die Höhe hielt, um zu fotografieren, minutenlang den Blick auf die Bühne. Ich hätte meinen Kopf schief legen und versuchen können daran vorbei zu sehen. Aber es gelang mir nicht. Erst als er die Arme herunter nahm und das Telefon wegpackte, konnte ich mich auf das Konzert konzentrieren.

Muss man alles dokumentieren und wenn nicht, ist es dann überhaupt geschehen? Und war man auch wirklich dabei? Ist der kleine Bildschirm, den man vor sich und über sich hält, den man zwischen sich und die Wirklichkeit schiebt ein Schutzschild, das abschirmt vor dem, was da vor sich geht?

Ich bin eine schlechte Fotografin. Leider. Jeder Moment kann nur verlieren durch ein Bild, das ich von ihm mache. Ich mag meine Fotos nicht. Mit ganz wenigen Ausnahmen.

Als ich mich vor zwei Jahren auf den Weg zum Begräbnis meines Vaters machte, legte ich mich im Zug quer über zwei Sitze, weil Traurigsein müde macht. Um nicht nachdenken zu müssen, holte ich mein Handy aus der Tasche und fotografierte von unten noch immer liegend aus dem Fenster. Ein Stück Himmel, ein paar Wolken und Stromleitungen. Vor allem Stromleitungen. Sie verliefen parallel, trafen sich, liefen wieder auseinander, verschwanden am Bildrand, tauchten wieder auf. Ich kann bis heute nicht beschreiben, was mir während dieser Zugfahrt durch den Kopf gegangen ist. Aber die Bilder können es.

Am Dienstag in der Kirche endete die Debatte zwischen Mutter und Tochter jäh, als die Mutter schließlich entnervt dem Kind das Handy aus der Hand riss. „Gott“, sagte sie streng, „macht ja auch kein Foto von dir.“ „Muss er auch nicht“, sagte die Tochter beleidigt. „Er weiß ja wie ich aussehe.“

barbara.kaufmann@kurier.at

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