Gewinner und Verlierer
Ich finde es wichtig, dass man kein schlechter Gewinner ist.
Als Kind war mir Gewinnen zuwider. Ich verlor lieber und ich verlor ständig, jedes Spiel, jeden Wettbewerb. Ich verlor gerne, weil mir die Verlierer immer so Leid taten, dass ich das Verlieren lieber auf mich nehmen wollte. Damit sie es nicht mussten.
Wahrscheinlich war es eine Art frühkindliches Jesus-Syndrom, das der katholische Kindergarten zu verantworten hatte. Vielleicht auch ein frühes politisches Statement, wie es mein Vater vermutete, der mir immer wieder erklärte, dass jedes Spiel ein Wettbewerb war und Wettbewerbe davon leben würden, dass es am Ende Sieger und Verlierer gab. „Sonst könnten wir gleich im Kommunismus leben„, grummelte er mürrisch zu einer Zeit, als ich noch nicht wusste, was das war, der Kommunismus.
Mein Vater war ein großer Anhänger von Wettbewerben, er war Turniertänzer, Tennisspieler, aber am liebsten spielte er Schach. Ein schönes, aber für mich bis heute zermürbendes Spiel. Die Entscheidung für den bestmöglichen Zug, das lange Warten auf den Zug des Gegners, das Starren auf das Spielbrett. Für Schach brauchte man Geduld und Geduld war nicht meine Stärke. Mein Vater konnte sehr ungeduldig sein. Mit mir und erst recht mit sich. Aber er liebte Schach.
Manchmal saß er Stunden bei einer einzigen Partie. Einer seiner liebsten Gegner war ein Bürokollege, etwas älter als er, mit dem er sich über die Jahre beim Schachspiel eng befreundet hatte. Er war meinem Vater haushoch überlegen gewesen, war internationaler Meister und Großmeister und es gibt sogar eine Eröffnung, die bis heute nach ihm benannt ist.
Rollenverteilung
Die Rollen zwischen ihm und meinem Vater waren also klar verteilt. Er verlor immer. Das machte ihm aber in diesem Fall ausnahmsweise nichts aus. Weil er beim Spielen von seinem Freund viel über das Spiel selbst lernte. Und je öfter er gegen ihn verlor, umso unbesiegbarer wurde er für andere. Einmal, nur ein einziges Mal schaffte er ein Remis gegen ihn. Ein Unentschieden, von dem er noch viele Jahre später stolz sprach.
Mein Vater konnte mit meiner Abneigung gegen Wettbewerbe nie viel anfangen. Man steigt in den Ring, um zu gewinnen. So einfach war das. Ich brauchte lange, um ihn zu verstehen. Und ich konnte es erst so richtig, als er nicht mehr lebte. Wenn man sich so hochgekämpft hatte wie er, der erste in der Familie gewesen war, der maturierte, einen fixen Job hatte, nicht draußen am Feld, sondern drinnen, der erste, der auf die Uni ging und ein Studium abschloss.
Wenn man das alles allein geschafft hatte, ohne Förderer, ohne Unterstützer, ohne Vater oder Vaterfigur, die dabei geholfen hätte, den Weg zu ebnen. Oder wenigstens am Wegrand gestanden wäre und einem Wasser gereicht hätte, wenn man nicht mehr weiter konnte. Wenn man so sehr hatte kämpfen müssen, dann war Verlieren keine Option. Weil zu viel auf dem Spiel stand.
Mein Vater fand es immer wichtig, dass man ein guter Verlierer ist. Ich finde es wichtig, dass man kein schlechter Gewinner ist. Dass die, die den Sieg davontragen, respektvoll mit dem Verlierer umgehen. Und sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Aber vielleicht wären wir da heute gar nicht so weit auseinander. Vielleicht waren wir es auch nie.
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