In welcher Welt leben wir?

In welcher Welt leben wir?
Wir sind am Donnerstag in einer anderen Welt aufgewacht. Aber je irrer alles wird, desto besonnener müssen wir bleiben
Gert Korentschnig

Gert Korentschnig

Für die meisten Menschen, die in diesem Land geboren sind, war Krieg in Europa etwas, mit dem ihre Eltern- oder Großeltern-Generation konfrontiert war. Der Super-GAU auf dem Konflikt-Barometer. Irgendetwas Historisches aus dem Geschichtsbuch. Weit weg und höchst unwahrscheinlich.

Dann kam der Jugoslawienkrieg, es gab kurzfristig Panik an unseren Grenzen und viele, die flüchten mussten. Seither hat wohl kaum jemand mehr mit einem Krieg in Europa gerechnet, schon gar nicht mit einem großen russischen Angriffskrieg. Der Krieg der Zukunft sei der Cyberkrieg, hieß es stets. Auch wenn der noch so ungreifbar ist – immer noch besser als ein atomarer Konflikt, der in der Zeit des Kalten Krieges als Schreckensszenario mit Graffiti auf Wände gesprayt wurde.

Plötzlich ist alles anders. Nur ein paar Hundert Kilometer östlich von Wien wird aus Panzern und Flugzeugen geschossen, ein freies Land überfallen, Menschen werden getötet, Infrastruktur-Anlagen zerstört – ein Überfall wie aus den Köpfen wahnsinniger Machthaber der Vergangenheit (und leider auch der Gegenwart) entsprungen. Mit konservativen Mitteln, viel mehr Bomben als Cyber. Wie kann das sein? In einer angeblich aufgeklärten, gebildeten Gesellschaft mit einem Wertekanon, den wir uns über Jahrhunderte erarbeitet haben?

Es ist zutiefst schockierend, wie der russische Machthaber agiert. Wie er das Gesetz des Geistes außer Kraft setzt. Wie er mit einem barbarischen Akt auf das Recht des Stärkeren pocht, als würden wir noch auf Bäumen leben. Wie hat Kanzler Nehammer doch völlig richtig gesagt: In unserer Welt müsse es um die Stärke des Rechts gehen, nicht umgekehrt.

Schön wär’s. Doch wie kann dieser Konflikt nun weitergehen? Werden als Nächstes auch andere Länder überfallen? Holt sich Russland nach und nach Teile der UdSSR zurück? Gibt es irgendwann wieder einen eisernen Vorhang? Darüber zu räsonieren, wäre bis noch vor wenigen Tagen als wirr und alarmistisch erschienen. Wenn nun das Undenkbare denkbar wird, stellt sich umso dringender die Frage: Wer stoppt den expansiven Kriegstreiber im Kreml? Und wie?

Putin führt der demokratischen Welt brutal vor Augen, wie sie sich ihre Diplomatie im Akutfall in die Haare schmieren kann. Ein paar Gremien da, ein paar Debattierclubs dort, ein Fingerzeig hier, mahnende Worte dort – wie soll das jemanden, der zwischen eiskaltem Kalkül und Blutrausch changiert, beeindrucken? Aber je irrer die Welt wird (übrigens auch aufgeheizt durch Corona), desto wichtiger ist es, besonnen zu bleiben, unsere Werte nicht aufzugeben. Wir müssen den so nahen Krieg möglichst weit weg halten, geografisch und in unseren Köpfen. Und der Ukraine so gut wie möglich helfen, finanziell und humanitär.

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