Zeit zum "größeren Aufbruch"
Die Zeit der Auguren ist angebrochen: welche Koalitionen gehen sich mathematisch wie aus, wer kann mit wem und vor allem: Wer kann mit wem nicht. Gerüchte von bereits fertigen Koalitionsverhandlungen zwischen den „Mächtigen“ in der ÖVP und der SPÖ werden gestreut, die Grünen oder die Neos je nach ideologischer Blickrichtung hier oder dort hinzugefügt. Die pragmatische SPÖ-Wien – eine interne Wahlsiegerin gegen den linkspopulistischen Parteivorsitzenden – träumt auch von der alten „Großen Koalition“, die wohl diesen Namen nicht mehr verdiente. Eine ziemliche Fantasielosigkeit greift um sich.
Betrachtet man die Ergebnisse emotionsfreier, dann sieht man zwei Sieger: FPÖ und Neos. Beide stehen für eine gewisse Politik, für die sie nachweislich gewählt wurden. Auch wenn nun in einer ersten frustrierten SPÖ-Reaktion von einem „schwarzen Tag für die Demokratie“ gesprochen wurde, ist das demokratisch herbeigeführte Wahlergebnis zu akzeptieren.
Wie könnten diese beiden Wahlsieger aber nun ihre jeweiligen Veränderungsideen umsetzen? Sie bräuchten jedenfalls dafür die ÖVP, deren Verlust – betrachtet man die Ergebnisse ohne die Ausnahmewahl 2019 – gar nicht so hoch ist. Wenn nun die FPÖ wirklich das System ändern will, wenn nun die Neos wirklich die Reformen angehen wollen, dann müssten sie mit der ÖVP einen größten gemeinsamen Nenner finden, der schon bei der Regierungsbildung sichtbar würde: etwa einen von allen drei unbestrittenen, möglichst staatsmännischen Bundeskanzler; Minister und Ministerinnen, die durch ihre Kompetenz in die Funktion kommen und nicht durch ihre innerparteiliche Stärke (auch wenn das eine das andere nicht ausschließen sollte); eine Neuordnung der Kompetenzen in einer Matrixstruktur der Ministerien, die den tatsächlichen Problemlösungen näher kommen als die momentanen jahrzehntelang festgeschriebenen Ministerverantwortlichkeiten.
Ein Zukunftsministerium – auch wenn die Bierpartei das Copyright darauf hätte – würde den Veränderungswillen ebenso untermauern wie das Finanzministerium für die Neos. In dieser Dreierkonstellation könnte die FPÖ zeigen, dass sie das „System“, das sie so gerne bekämpft, in einen aus ihrer Sicht demokratisch legitimierten Staat umwandelt und nun als Teil dieses „Systems“ diesen mit den beiden Koalitionspartnern in einer modernen, dynamischen Regierungsform voranbringt. Dass sich damit gleichzeitig auch die ÖVP innerparteilich reformieren könnte – bündische und föderale Interessen wären zurückzudrängen –, würde ihr nur guttun.
Die nächsten Wochen werden zwar das Misstrauen aller gegen alle nur wachsen lassen – immerhin hat die ÖVP ja den Hautgout, in Koalitionsverhandlungen immer als Siegerin hervorzugehen. Einem „größeren Aufbruch“ könnte aber bei einigem guten Willen aller Beteiligten schlussendlich nichts mehr im Wege stehen.
Günther R. Burkert ist Univ.-Prof. an der Universität für Weiterbildung Krems (Zentrum für Hochschulgovernance und Transformation) und war bis 2006 wissenschaftlicher Leiter der Politischen Akademie der ÖVP
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