Wer wir sein wollen

Barbara Kaufmann
Am 12. Mai ist ME/CFS-Aktionstag. Geschätzt bis zu 80.000 Menschen sind in Österreich betroffen. Über eine Krankheit, die Zukunftsträume zerstört.

Wer sind wir? Wer wollen wir sein? Was macht uns aus, als Einzelne, als Gesellschaft, wenn nicht, wofür wir bereit sind einzustehen und nicht nur wofür, sondern vor allem: für wen?

Millionen werden vermisst. Millions missing. Unter diesem Motto steht der Protest am internationalen ME/CFS Tag. Er findet am 12. Mai in vielen Städten statt, in denen Erkrankte mitten aus dem Leben gerissen wurden. Ohne Vorwarnung, ohne Vorahnung. ME/CFS ist eine Krankheit, die unerwartet kommt. Es ist eine Krankheit, die junge Menschen zu Pflegefällen macht und Eltern zu Pflegekräften. Es ist eine Krankheit, die Zukunftsträume zerstört und Vertrauen vernichtet. Es ist eine Krankheit, die auslaugt, schwächt, lähmt. Als wären Gewichte an Armen und Beinen und Augenlidern montiert, die nach unten ziehen, die selbst im Liegen die Glieder schwer machen. Es ist eine Krankheit, die jedes Geräusch zu Lärm und Lärm zur Qual macht. Schritte auf der Treppe. Die Lüftung im Badezimmer. Ein Staubsauger im Stockwerk darüber.

Es ist eine Krankheit, die aus alltäglichen Handgriffen olympische Disziplinen macht. Zähneputzen, zur Toilette gehen, aufrecht stehen. Es ist eine Krankheit, die Erkrankte ihrem Umfeld entzieht. Ihren Familien. Ihren Kolleginnen. Ihren Freundinnen. Weil Nähe zum Kraftakt wird. Ein Telefonat. Ein Gespräch. Ein gemeinsames Essen. Kaum bewältigbar. Es ist eine Krankheit, die Erkrankte auf sich selbst zurückwirft. Die einsam macht. Die isoliert.

Betroffene müssen sich damit abfinden, dass ihr Leben nie mehr dasselbe sein wird, dass vieles, woran sie geglaubt haben, worauf sie sich verlassen haben, nicht mehr gilt. Sie müssen sich aber auch mit letzter Kraft zu Ämtern schleppen, müssen sich verteidigen, müssen ihre Schmerzen beweisen. Müssen immer wieder über ihre Grenzen gehen, Zusammenbrüche riskieren, um in einem System gehört zu werden, in dem nur noch gehört wird, wer laut genug schreit. Und zur Seite geschoben, übergangen, ignoriert, wem die Stimme fehlt.

Sie müssen sich gefallen lassen, dass ihre Wahrnehmung infrage gestellt wird. Ihre Symptome nicht geglaubt, ihre Beschwerden als Einbildung abgetan werden. Sie müssen ertragen, dass man ihnen unterstellt zu übertreiben, zu betrügen, zu lügen.

Millionen werden vermisst. Millions missing. Vermisst. Verschwunden. Verdächtigt. Krankheiten können alle treffen. Ganz gleich, wer man ist und wo man war, bevor sie ins Leben getreten sind und es für immer verändert haben.

Wer sind wir? Wer wollen wir sein? Wenn wir nicht für jene sprechen, die ihre Stimme nicht mehr erheben können, wenn wir ihnen nicht zur Seite stehen, wenn wir nicht für sie das Wort ergreifen, heute und in Zukunft, wer wird es für uns tun, wer für uns sprechen, wenn wir es eines Tages nicht mehr können?

Barbara Kaufmann ist Autorin und Filmemacherin. Am 13. Mai ist sie Teil einer Benefizlesung. Infos unter mecfs.at

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