Experteninterview: Leben mit Chronic Fatigue Syndrom

#MillionsMissing: Ein Paar Schuhe mit den Eckdaten des CFS-Patienten symbolisiert die soziale Isolation der Betroffenen.
Er ist einer von nur einer Handvoll Ärzten, die sich in Österreich mit den Symptomen und der Diagnose des Chronic Fatigue Syndrome befassen: der Neurologe Dr. Michael Stingl über das Rätsel ME/CFS.

Knapp 30.000 Menschen in Österreich leben mit der Diagnose CFS: Offiziell als Krankheit gelistet ist es seit 1988. Seit wann ist hier CFS Thema?
Michael Stingl:
(lacht) Man könnte diskutieren, ob es überhaupt schon Thema ist. Nein, also die CFS-Hilfe Österreich gibt es seit zwei Jahren. Die haben das sehr professionell aufgebaut. Dadurch, dass es nicht so selten ist – wenn die Schätzungen korrekt sind, dann sind mehr Leute von CFS betroffen als von Multipler Sklerose –, kennt fast jeder jemanden, der zumindest eine leichte Ausprägung des Chronic Fatigue Syndroms hat.

Der Katalog an Symptomen von CFS ist lang und vielseitig: Was sind die Parameter für eine endgültige Diagnose?
Der Hauptfaktor ist die eingeschränkte Leistungsfähigkeit über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten. Dann die Belastungsintoleranz: Man macht etwas, überschreitet jedoch eine bestimmte Schwelle und darauf folgt der sogenannte Crash. Ein essenzielles Kriterium ist auch schlechter Schlaf, der vielleicht von der Zeit ausreicht, aber nicht erholsam ist. Dann gibt es noch zwei Kriterien, von denen eines erfüllt sein muss: die kognitive Beeinträchtigung, die viele als „Hirn-Nebel“ beschreiben, ein benebeltes Gefühl, Probleme mit Konzentration, Aufmerksamkeit, Wortfindung. Dann haben sehr viele Betroffene eine sogenannte orthostatische Intoleranz: Wenn sie länger stehen müssen, dann kriegen sie sofort Kreislaufprobleme. Das sind die Hauptkriterien, aber es gibt noch eine Vielzahl von anderen Symptomen.

Experteninterview: Leben mit Chronic Fatigue Syndrom

Diese vielen Symptome und der Mangel an Ärzten, die sich mit CFS auskennen, bergen das Risiko von Fehldiagnosen. Was sind Krankheiten, mit denen CFS häufig verwechselt wird?
Jegliche Art psychischer Erkrankung. Nachdem es keine klaren Marker dafür gibt und auch die Magnetresonanz im Schädel unauffällig ist, weiß man nicht genau, was es wirklich ist, nur dass es den Leuten schlecht geht. Eine somatoforme Störung wird häufig diagnostiziert. Die kann klinisch ähnlich sein, es gibt aber, finde ich, schon deutliche Unterschiede. Manche Psychiater werden mir hier wohl widersprechen, und eine psychiatrische Diagnostik ist manchmal sicher auch eine sinnvolle Ergänzung. Wenn potenzielle Patienten ohne eine Abklärung zu mir kommen, dann mache ich schon als erstes einen sehr ausführlichen Basischeck. CFS braucht eine Ausschlussdiagnose, ich muss mir sicher sein, dass nichts anderes dahintersteckt. Und steckt eine entzündliche, rheumatische oder eine Krebserkrankung dahinter, dann findet man diese in einer medizinischen Abklärung auch meist. Schlimm ist es eben, wenn man weiß, dass man nicht weiß, woher die Symptome kommen.

Womit kämpfen CFS-Patienten abseits ihrer körperlichen Symptome?
Mit der Sichtbarkeit. Die Leute verschwinden. Sie gehen zum Arzt – werden nicht ernst genommen. Sie kriegen schlechte Empfehlungen. Der Arzt sagt: „Machen Sie mehr Sport! Reißen Sie sich zusammen!“, was nur zu einer Verschlechterung führt – und dazu, dass die Leute auf diesen Arzt künftig verzichten. Sie ziehen sich aus dem Sozialleben zurück, weil Weggehen am Abend einfach nicht mehr drin ist. Das symbolisiert auch das Hashtag „MillionsMissing“. Es gibt Aktionen wie ein Paar Schuhe wo hinzustellen, damit man sieht: Die Leute sind einfach nicht mehr da. CFS kickt die Betroffenen total aus ihrem Alltag.

Wie schaffen es CFS-Patienten, einem Beruf nachzugehen?
Das ist ein großes Problem. Das Spektrum hier ist riesig: von Leuten, die 40 Stunden in der Woche arbeiten gehen können und am Wochenende viel Regenerationszeit brauchen, über die, die 20 Stunden arbeiten und von Donnerstag bis Sonntag regenerieren, bis hin zu Leuten, die nur im Haus noch Dinge erledigen können, und Patienten, die bettlägerig sind.

Was ist effektiv die Therapie von CFS, was können Patienten tun?
Im Prinzip ist es das Allerwichtigste zu lernen, wo die Energiegrenzen sind, das sogenannte Pacing. Das heißt: ein Aktivitäten-Tagebuch zu führen, sich anzuschauen, wodurch es einem an einem Tag schlecht geht, zu testen, wie weit man gehen kann, bis die Erschöpfung wiederkommt und wie lange man danach braucht, um zu regenerieren. Das Wichtigste ist, im Rahmen der Energiegrenzen so aktiv wie möglich zu bleiben, damit die Kondition halbwegs erhalten bleibt. Übertreiben darf man es nicht. Pacing ist das Um und Auf.

Experteninterview: Leben mit Chronic Fatigue Syndrom

Im Film „Unrest“ haben die Patienten teils Körbe an Tabletten, Vitaminen und Nahrungsergänzungsmitteln, die sie schlucken. Wie sinnvoll sind diese?
Die probiere ich auch immer. Coenzym Q10, Vitamin B2, Nährstoffe, die für die Energie in der Zelle ganz wichtig sind. Auch hier muss man ehrlich sagen, wenn es etwas hilft: „Hurra!“ Aber wenn es nichts hilft, dann einfach wieder weglassen. Das kostet alles viel Geld. Ich versuche ein Stufenschema, um zu schauen, was hilft und was nicht. Und ich bin Skeptiker: Wenn es nur einen geringen Effekt gibt, muss man schon fragen, ob das nicht ein Placeboeffekt ist.

Was ist essenziell im persönlichen Umgang mit dem Syndrom?
Die Krankheit zu akzeptieren, ist irrsinnig wichtig bei jeder chronischen Krankheit. Das sagt sich so leicht, ist in Wahrheit aber extrem schwierig. Man muss sich bewusst sein: Wegzaubern kann man Chronic Fatigue nicht und dass es darum geht, die Symptome so optimal hinzukriegen, dass man möglichst viel vom Leben hat. Wichtig ist das Verständnis vom Umfeld. Wenn auch nicht Ämter wie AMS oder PVA, dann zumindest die Familie, die versteht: Das wird nicht simuliert. Das ist eine reale Krankheit und Betroffenen würden wollen, aber sie können nicht. Es gibt Studien dazu, dass die Lebensqualität von Leuten mit CFS wesentlich schlechter ist, als die von Menschen mit anderen chronischen Krankheiten, weil diese Akzeptanz fehlt. Wenn man Krebs hat, weiß jeder: Das ist Krebs. Bei CFS versteht es keiner. Das ist auch der Grund, warum Selbstmordgedanken bei CFS-Kranken wesentlich häufiger vorkommen. Sie kommen an einen ausweglosen Punkt. Und das ist der wirkliche Skandal – wie alleine die Leute damit gelassen werden.

Businesswoman with low battery

Wer sollte sich darum kümmern?
Naja, selbst wenn ich mich als System versteife und sage: „Das ist jetzt eine psychische Erkrankung und kann partout nichts anderes sein!“, dann habe ich trotzdem als Gesundheitssystem die Pflicht, mich um Leute zu kümmern, die in einer Situation sind, die für sie vollkommen ausweglos ist. Das finde ich bedauerlich und ist mitunter sicher auch ein Grund dafür, dass mich CFS so interessiert hat: Weil ich es nicht verstehe, wie man Leute so im Regen stehen lassen kann. Und unser Gesundheitssystem ist super, ich möchte das nicht schlecht reden, aber es ist oft nicht ausgelegt auf chronisch kranke Menschen. Egal ob CFS, Fibromyalgie oder chronische Schmerzen, um die kann sich niemand ausreichend kümmern, weil keine Zeit da ist.

Was würden Sie sich für Chronic-Fatigue-Betroffene wünschen?
Dass ein politischer Wille entsteht, dieses Problem ernst zu nehmen. Wenn im Gesundheitswesen niemand auf die Idee kommt, eine Ambulanz für CFS aufzumachen, dann wird das ein politischer Auftrag. Das wäre super. Es fehlt eine Anlaufstelle, ein CFS-Zentrum, wo man eine Basisabklärung macht und dann wirklich sagen kann: „Ja, Sie haben CFS“ oder „Nein, Sie haben kein CFS.“ Man muss einen Weg vorgeben, man kann nicht erwarten, dass die Betroffenen das alles selber auf die Reihe bekommen.

Kontakt:
Dr. Michael Stingl
Facharzt für Neurologie
Facharztzentrum Votivpark, Garnisongasse 7/13, Wien

Österreichische Gesellschaft für ME/CFS:
CFS-Hilfe

Experteninterview: Leben mit Chronic Fatigue Syndrom

Diesen Artikel sowie viele weitere zu den Themen Gesundheit, Bewegung, Psyche und Ernährung finden Sie im KURIER-Magazin Medico im Zeitschriftenhandel um 4,50 Euro. Auch als versandkostenfreie Direktbestellung per Mail an magazin@kurier.at erhältlich.

Kommentare