Putin hat eine ernsthafte Niederlage erlitten

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Die Gründe für Selenskijs Vorstoß auf russisches Gebiet – und die Risiken. Ein Gastkommentar von Janos I. Szirtes.

Seit dem Zweiten Weltkrieg ist so etwas nicht geschehen. Die ukrainische Armee überschritt im Gebiet von Kursk die völkerrechtlich anerkannte Grenze Russlands und drang auf „heiligem russischen Boden“ tief ins Land ein. Fakt ist nun, dass der Krieg Russland erreicht hat. Das sich als Großmacht bezeichnende Russland konnte dem bisher nicht Einhalt gebieten.

Nicht nur Stützpunkte, Flugplätze, Öllager sind betroffen, sondern auch, ob bewusst oder zufällig, zivile Objekte. Die Angriffe gegen militärische Objekte sind leicht nachvollziehen, selbst wenn der Westen aus der Befürchtung der Ausweitung des Krieges dies nicht gutheißt. Bisher allerdings fehlt ein Beweis, dass Drohungen auch wahr werden. Dem ständigen Orakel des Kreml, Vergeltung zu üben, wenn rote Linien überschritten werden, folgten keine Taten.

Putin hat eine ernsthafte Niederlage erlitten

Janos I. Szirtes

Wenn ein Aggressor sein eigenes Gebiet für die Vorbereitung der Angriffe benutzt, wenn Nachschub dort konzentriert ist, von dort Flugzeuge mit tödlicher Fracht abheben Raketen und Drohnen starten, ist es legitim diese an Ort und Stelle zu vernichten. Die UNO-Charta mit dem Recht zur Selbstverteidigung lässt es zu. Die militärische Notwendigkeit hat aber einen Haken. Es handelt sich vorwiegend um Mittel, die der Westen zur Verfügung stellte, mit der Bedingung, diese nicht im russischen Staatsgebiet zu verwenden. Die Ukraine entwickelte zwar eigene Raketen und Drohnen, aber deren Anzahl (eine Million) reicht nicht. Es sind daher begrenzte Erfolge. Sehr langsam geht der Westen auf dem Weg voran, der Ukraine die Verwendung der Waffen nach eigenem Ermessen zu überlassen.

Die zweite Stoßrichtung ist, den Krieg nach Russland zu tragen. Die Bevölkerung hat Putin wiedergewählt und damit, zwar unter falscher Voraussetzung, aber dennoch eine Mitschuld auf sich geladen. Schon die Hälfte der Bevölkerung wünscht sich jedoch (auf beiden Seiten) das Ende des Krieges. Es ist sicherlich nicht ethisch, den Krieg in den Alltag Russlands zu tragen, aber man tut nur das, was einem seitens Moskaus seit über zwei Jahren widerfährt. Es wird damit auch der Beweis angetreten, dass die ukrainische Armee für Überraschungen gut ist, also mehr Unterstützung verdient. Die Grundlagen für eventuelle Verhandlungen verbessern sich.

Die dritte Stoßrichtung hat innenpolitischen Charakter. Putin hat nicht nur eine ernsthafte Niederlage erlitten. Die Zehntausenden evakuierten Menschen murren: Man hat sie über den Stand der „Spezialoperation“ belogen. Die Unzufriedenheit nimmt zu, was für das Regime gefährlich ist.

Die vierte Stoßrichtung ist, die Moral der Soldaten, der Armee und der Bevölkerung zu heben. Dies zeigt bereits Erfolge. Der Wunsch nach Entlastung der Front im Donbass hat sich allerdings bislang nicht erfüllt.

Die Taktik der Ukraine ist nicht ohne Risiken. Es wird ihr einiges an Sympathien kosten, der Preis wird in zunehmenden Menschenopfern und Ausweitung des auch bisher beispiellosen Bombardements spürbar sein und Putin wird dies sicherlich in seiner Inlandspropaganda gegen die „Faschisten und Terroristen“ in Kiew ausnutzen. Ob der Nutzen die Kosten der neuen Taktik aufwiegt, lässt sich derzeit schwer abschätzen.

Janos I. Szirtes ist Politikwissenschafter, lebt in Budapest, war Journalist und Diplomat

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