Orbán kann gar nicht blockieren

Hungarian Prime Minister Viktor Orban visits Russia
Es geht ein Schreckgespenst um in Europa. Dabei kann die ungarische Ratspräsidentschaft weniger ausrichten, als Kritiker meinen. Ein Gastkommentar von Stefan Brocza.

Medial geht wieder einmal ein neues EU-Schreckgespenst um. Nachdem der von vielen Seiten angekündigte alles verändernde Rechtsruck bei den EU-Wahlen ausblieb, ist es nun Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, der als neuer Gottseibeiuns der Europapolitik herhalten muss – hat sein Land doch tatsächlich am 1. Juli turnusmäßig die halbjährige EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Anlass genug also gleich mal von Stillstand und gar Blockade für das nächste halbe Jahr zu raunen.

Tatsächlich wird die ganze Sache wieder einmal nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wird. Obwohl der ORF einen Experten aufbot, der von Verschiebungen in der EU-Außenpolitik unter Orbán phantasierte oder der Standard etwa schnappatmend titelt, dass Orbán als EU-Ratsvorsitzender zu Putin reist, muss man festhalten, dass dies alles so nicht stimmt.

Orbán kann gar nicht blockieren

Stefan Brocza

Seit Inkrafttreten des EU-Vertrages von Lissabon – immerhin auch schon wieder vor fast 15 Jahren, nämlich am 1. Dezember 2009 – haben sich Rolle und Funktion des halbjährlich unter den Mitgliedsländern wechselnde Vorsitzes im EU-Ministerrat grundlegend verändert. Während dieser sechs Monate leitet das jeweilige Vorsitzland die Sitzungen und Tagungen auf allen Ebenen des Rates und trägt damit zur Kontinuität der Arbeit im EU-Ministerrat – immerhin Rechtsetzungsorgan der EU im Zusammenwirken mit dem Europaparlament – bei. Dies ist aber kein Freibrief zur Willkür oder verleiht irgendwelche Vetorechte bei EU-Beschlüssen.

Einerseits arbeiten die Mitgliedsstaaten, die jeweils den Vorsitz haben, in Dreiergruppen als sogenannter Dreiervorsitz eng zusammen. Diese jeweilige Dreiergruppe formuliert vorab langfristige Ziele und erarbeitet ein langfristiges Programm mit jenen Themen und Fragen, mit denen man sich im betreffenden Achtzehnmonatszeitraum befassen wird. Auf Basis dieses Programms stellt dann jedes der drei Länder sein eigenes detailliertes Sechsmonatsprogramm auf. Der aktuelle Dreiervorsitz besteht aus Spanien, Belgien und eben Ungarn. Orbán und seine viel gescholtene Ministertruppe hat in den letzten zwölf Monaten bereits in dieser Dreiergruppe mitgewirkt und wird jetzt – während der kommenden Monate – sein begonnenes Arbeitsprogramm versuchen, erfolgreich zu Ende zu bringen.

Andererseits werden seit dem 1, Dezember 2009 die Bereiche der EU-Außen- und Sicherheitspolitik durch den Hohen Vertreter – aktuell ist das Josep Borrell – wahrgenommen. Dieser führt auch den Vorsitz im EU-Außenministerrat. Wie auch in allen vorbereitenden Ratsarbeitsgruppen in diesem Bereich der Vorsitz – entgegen der sonst allgemeinen Regel – nicht vom jeweiligen Vorsitzland, sondern dauerhaft mit MitarbeiterInnen des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) geführt wird. So wie also das gesamte außenpolitische Tagesgeschäft beim Hohen Vertreter liegt, wird gemäß EU-Vertrag die EU auf Ebene der Staats- und Regierungschefs zudem vom jeweiligen Präsidenten des Europäischen Rates vertreten (aktuell also Charles Michel).

Deshalb sei nochmals klargestellt: Wohin auch immer Orbán in den nächsten sechs Monaten reisen mag, er wird es nicht als EU-Repräsentant tun.
 

Stefan Brocza ist  Experte für Europarecht und internationale Beziehungen. Er betreute im Generalsekretariat des Rates der EU mehrere Ratspräsidentschaften
 

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