Nuklearer Erstschlag ohne Erwiderung? Kreml als Januskopf
Putins neue Atomdoktrin soll es leichter machen, diese Waffenart einzusetzen. In den Medien tauchte auch eine Simulation auf, wie ein Angriff auf London aussehen würde – mit knapp 900.000 Toten. Angriffe z. B. auf Berlin und Paris sind in Russland bereits öfters zur Sprache gebracht worden. Von russischen Verlusten ist keine Rede.
Die Atomdoktrin ist das Zeichen für die wichtigere Rolle der Militärs. Sie besagt, dass im Falle eines atomaren oder konventionellen Angriffs (oder dessen Gefahr) Atomwaffen eingesetzt werden können. Dies soll nun auch für nichtnukleare Länder gelten, damit ist Putins Erklärung, sie nicht gegen die Ukraine einzusetzen, hinfällig. Auch von einem Erstschlag gegen Dritte ist die Rede, denn Russland hat den freiwilligen Verzicht, der noch seitens der UdSSR konzediert wurde, nicht verlängert.
Die bisher gültige Atomdoktrin umschrieb die Einsatzgründe sehr vage. Sie war an alle Situationen der Weltpolitik anpassbar und inhaltlich zeitlos. Nach russischer Lesart ist z. B. die Aggression gegen die Ukraine eine vorbeugende Maßnahme und eigentlich habe die Ukraine den Krieg begonnen. Laut dieser Bestimmung wäre ein Einsatz von Atomwaffen der Doktrin entsprechend.
Die neue Atomdoktrin soll die Hemmschwelle herunterfahren, indem sie sie auch auf Waffenlieferanten, die keine Kriegsparteien sind, ausgedehnt wird. Eigentlich war dies gar nicht erforderlich, denn nach Lesart des Kreml bedroht der Westen den Bestand Russlands, was einen Erstschlag „rechtfertigen“ würde.
Russland ist zwar die weltweit größte Atommacht, aber die Abschreckung hält die Atomraketen in den Silos. Die neue Doktrin mit noch mehr verschwommenen Einsatzgründen wird an der Abschreckungspolitik nichts ändern. Aus Kaliningrad abgeschossen, würde eine Rakete Warschau oder Berlin in wenigen Minuten erreichen, was kaum unmittelbare Gegenmaßnahmen zuließe. Von U-Booten gestartete Raketen würden die Zeitspanne weiter verkürzen. Daran zeigt sich die Janusköpfigkeit des Kreml: Sein Drohpotenzial zählt nicht, nur das der angenommenen anderen. Einem Erstschlag folgt aber ein Erwiderungsschlag, doch davon ist in Russland nichts zu hören.
Putin mag vieles sein, aber er ist weder dumm noch ein Selbstmörder. Über ein atomar verwüstetes Russland kann er nicht herrschen. Bei Lichte besehen hat die neue Atomdoktrin nur einen Sinn: Drohung und Erhöhung der Angst, um den Westen zu Zugeständnissen zu bewegen. Es geht um die Beibehaltung des einseitigen militärischen Vorteils, ohne Risiko vom eigenen Land aus die Ukraine zu beschießen.
Der Einsatz von Atomwaffen ist in Wahrheit nicht beabsichtigt, die Nukleareinheiten Russlands zeigen keine erhöhte Aktivität. Man weiß zwar, dass es sich um Drohung und Schüren der Angst handelt, dennoch ist dies nicht ohne Widerhall. Seit langer Zeit stand die Genehmigung der Verwendung westlicher Waffen auf russischem Staatsgebiet aus, was militärisch die Quadratur des Kreises darstellt. Wie dies jetzt geregelt ist, scheint unklar. Darauf baut Putin, deswegen die Neuverkündung der Atomdoktrin.
Janos I. Szirtes ist Politikwissenschafter, lebt in Budapest, war Journalist und Diplomat.
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