Moralisches Leadership: Eine Frage von Relevanz?

Am 20.  Jänner wird Donald  Trump (hier mit Elon Musk) zum zweiten Mal Präsident der USA 
Die breite Unterstützung für moralferne Politiker ist ein globaler Trend. Ein Gastkommentar von Paul Sailer-Wlasits.

Als US-Präsident Richard Nixon vor 50 Jahren über die Watergate-Abhör-Affäre politisch stolperte, wurde er von seiner eigenen Partei, von führenden republikanischen Kongressabgeordneten, zum Rücktritt aufgefordert. Er hatte gegen sämtliche Vorstellungen von Moral und anständigem politischem Handeln verstoßen. Unter massivem medialem Druck trat Nixon 1974 zurück. Ob die Mehrheit der US-Wählerschaft ein halbes Jahrhundert später bei der Präsidentschaftswahl ein Verstandes- oder ein Geschmacksurteil getroffen hat, scheint keine politische, sondern eine massenpsychologische Fragestellung zu sein.

Die USA sind kein Einzelfall. Auf allen Kontinenten gibt es zurzeit Staaten, in denen fragwürdige Geschäftsleute und sachpolitisch unterdurchschnittlich geeignete Polit-Quereinsteiger, gegen die häufig sogar ernst zu nehmende Strafverfahren laufen, „Erste Männer“ sind oder werden wollen. Dass sich einige von diesen zusätzlich durch mangelnde politische Impulskontrolle auszeichnen, führt zur Frage: Gibt es im internationalen politischen Gefüge keinerlei moralische Richtschnur mehr? Gilt heute nur noch anything goes? Von Lüge über Betrug bis zur militärischen Invasion? Zerbricht die Welt an ihren amoralischen Führern?

Moralisches Leadership:  Eine Frage von Relevanz?

 Paul Sailer-Wlasits

Trotz aller Unterschiede zwischen den illiberalen, antidemokratischen und autoritären Polit-Figuren gibt es zwei frappierende Übereinstimmungen: die Moralferne der Entscheidungsträger und deren erschreckend breite Unterstützung durch große Teile der jeweiligen Bevölkerungen. Falls dies keinen globalen Trend des moralischen Verfalls widerspiegelt, könnte es auch ein Zeichen der gesamtgesellschaftlichen Ermattung sein. Vielen Menschen weltweit fehlen schlicht Mut und Energie, um das Leben mit seinen komplexen und zuweilen belastenden Interaktionen auf Tagesbasis durchzustehen.

Einst nannte man Werte wie Charakterfestigkeit, Moral und politischer Anstand „politische Kultur“. So relativ diese in der Praxis auch sein mag, vielerorts scheint sie bereits vollends zerfallen zu sein. Wo sind die gewichtigen politischen Stimmen weltweit, die den moralischen Abgründen Einhalt gebieten? In welchem Land gibt es derzeit moralisches Leadership? Wer könnte in Deutschland, das in Kürze wählt, oder in Österreich die künftige Politik als moralische Führungspersönlichkeit langfristig positiv gestalten?

Populismus, die große rhetorische Hinwendung zum Volk, kennt keine ethischen Mindeststandards. Die moralische Latte dreister Ankündigungen und leerer Versprechungen liegt in vielen Staaten nicht tief, es gibt diese schlichtweg nicht mehr. Vielerorts wurde das rhetorische Polit-Gehämmer durch das teils erschöpfte, teils überredete oder erzürnte Wahlvolk mit hoher Zustimmung belohnt. Zukünftig sind – nebst dringenden Wirtschaftsimpulsen und der Reduktion struktureller Gewalt – primär politische Integrität und ehrbare Vorbildwirkung vonnöten, um langfristig Zuversicht sowie stabile Verhältnisse der Anerkennung, Toleranz und des Ausgleichs wiederherzustellen.

Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschafter in Wien.

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