Bewahrung oder Zerfall der EU
Die EU-Wahlen werden die Union nicht der extremen Rechten ausliefern. Dennoch bieten sie rechten Parteien die Chance, weitere Integrationsbemühungen zu behindern, was letztlich zum Zerfall der EU führen könnte. Rechtsaußen-Parteien könnten sich bei den Europawahlen zum ersten Mal rund 20 Prozent der Sitze im nächsten EU-Parlament sichern. Dieselben Parteien regieren mittlerweile – direkt oder indirekt – über ein Dutzend Mitgliedstaaten, darunter EU-Gründungsstaaten wie Italien oder die Niederlande. Derselbe Normalisierungsprozess steht nun auf EU-Ebene bevor, wenngleich unter anderen Vorzeichen.
Erstens ist die EU-Kommissionspräsidentin, die von den Staats- und Regierungschefs im Rat nominiert wird, nicht daran gebunden, sich klare Mehrheiten im Parlament zu sichern, ebenso wenig wird von den neu gewählten Abgeordneten erwartet, dass sie vor der Wahl der Kommission Farbe bekennen. So schaffte es von der Leyen 2019 nicht, sich die Unterstützung aller Abgeordneten von Mainstream-Parteien zu sichern. Stattdessen erhielt sie unter anderem Stimmen der polnischen PiS.
Zweitens ist das EU-Parlament weder „europäisch“ noch ein richtiges Parlament. Obwohl neu gewählte Mandatare sich zwar EU-Parteigruppen anschließen können, gehören sie nationalen Parteien an. Dem EU-Parlament fehlt zudem das Initiativrecht für Gesetze, das ausschließlich der Kommission vorbehalten ist. Selbst wenn die Rechtsaußen-Parteien sich zu einer Fraktion zusammenschließen – zusätzlich zu den bestehenden Gruppen EKR und ID –, wird dies also nicht ausreichen, um die politische Richtung der Union zu bestimmen.
Die Vereinigung der Rechtsaußen-Parteien in Europa ist ein alter Traum, der vor über 20 Jahren von Farage, Le Pen und Wilders initiiert wurde. Doch nicht nur sind diese untereinander inkompatibel (siehe ihre Haltungen zu Russland), ihr nationaler Fokus verhindert auch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit.
Dennoch wird die extreme Rechte an politischem Einfluss gewinnen.
Für einen Vorgeschmack genügt ein Blick auf die letzten Monate. Unter dem Druck der rechtsradikalen Kräfte sowie der Landwirte verzichtete von der Leyen auf ihr politisches Erbe, den europäischen Green Deal – vor allem, um das Vertrauen ihrer eigenen Partei, der EVP, aber auch vieler Liberaler, wie der deutschen FDP oder von Emmanuel Macron wiederzugewinnen, die eine „Pause“ in der Klimaregulierung forderten.
Nicht nur die Klimaziele, sondern auch die größere Agenda der EU steht auf dem Spiel. Die Erweiterung der Union sowie institutionelle Reformen werden unter dem Einfluss der extremen Rechten verlangsamt oder sogar pausiert. Das nächste EU-Budget, das 2026 vom Parlament verhandelt werden soll, wird vermutlich schrumpfen und so eine Kluft zwischen den Erwartungen der Bürger an die Problemlösefähigkeiten der EU und den dafür verfügbaren Mitteln schaffen.
Das steht bei diesen Wahlen auf dem Spiel: die Bewahrung oder der Zerfall des EU-Projekts.
Alberto Alemanno ist Professor für EU-Recht an der HEC Paris, ist Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Kandidierte 2018 in Italien für Più Europa
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