EU-Horrorszenario: Am 10. Juni passiert genau gar nichts

Daniel Dettling beschrieb am 25. 5. ein Negativszenario nach den Wahlen zum Europaparlament
Das Ende der EU ist nicht so einfach, wie sich das Zukunftsforscher vorstellen. Ein Gastkommentar von Stefan Brocza.

Vor einer Woche konnte man an dieser Stelle das dystopische Gedankenexperiment eines bekannten Zukunftsforschers lesen, was alles passieren würde, wenn sich am 9. Juni bei den Europawahlen in allen 27 Mitgliedstaaten EU-Gegner durchsetzen würden. Zentrale These des Szenarios, das sich streckenweise wie der Entwurf zu einem Hollywood-Katastrophen-Blockbuster im Stil von Roland Emmerich liest, lautet: Am Tag nach der Wahl lösen die Mitgliedstaaten die EU auf. Dass dem wohl eher nicht so sein würde, zeigt ein einfaches und faktenbasiertes Durchdenken, wie das denn wirklich sein könnte, wenn am 9. Juni EU-Gegner die Europawahl gewinnen.

 

EU-Horrorszenario: Am 10. Juni passiert genau gar nichts

Stefan Brocza

EU-Gegner ist nicht gleich EU-Gegner. In Wahrheit treten am 8. Juni eher dezidierte EU-Kritiker und Skeptiker an. Allein der Blick nach Österreich zeigt: Da findet sich keine Partei, die den umgehenden Austritt oder gar die Abschaffung der EU als ihr zentrales Ziel anführt. Selbst die vielfach wegen ihrer EU-Haltung gescholtene FPÖ hat in den letzten fünf Jahren im Europaparlament bei 20 Prozent aller Abstimmungen mit Ja gestimmt. Bei weiteren 20 Prozent haben sich die FPÖ-Mandatare zudem der Stimme enthalten – und damit de facto stillschweigend zugestimmt.

Und selbst wenn ein zusammengewürfelter Haufen von EU-Kritikern und Skeptikern die Mehrheit erlangen sollte: Das Europaparlament ist nicht jene Institution, die über Existenz und Bestand der EU entscheidet. Das sind noch immer die Gründer der Union, also die einzelnen Mitgliedstaaten. Wenn also FPÖ, AfD und Rassemblement National die EU-Wahl gewinnen, regieren in den jeweiligen Ländern noch immer Nehammer, Scholz und Macron mit ihren jeweiligen Mehrheiten in den nationalen Parlamenten. Geänderte Mehrheitsverhältnisse im Europaparlament ändern nicht automatisch die Verhältnisse in den heimischen Parlamenten.

Die Mehrheitsfindung in solch einem Europaparlament wäre sicher erschwert und die EU-Gesetzgebung würde sich verlangsamen. Und ja, natürlich wäre es kompliziert, unter solchen Umständen etwa eine neue EU-Kommissionsführung zu bestellen. Aber für all diese Fälle gibt es Regeln und Übergangsbestimmungen.

Eine zweite Horroraussage des Zukunftsforschers Dettling: Mit dem Ende der EU würden alle EU-weit gültigen Gesetze, Normen und Förderungen von einem Tag auf den anderen außer Kraft gesetzt. Nun allein, wenn man sich den Brexit in Erinnerung ruft, sieht man, dass dem gerade eben nicht so ist. Viele der EU-Bestimmungen sind zudem in nationalen Gesetzen umgesetzt und implementiert. Selbst wenn also eine EU-Richtlinie plötzlich wegfällt, bleiben die jeweiligen nationalen Gesetze in Kraft.

Grundsätzlich sei zum Schluss noch angemerkt, dass große Staatengebilde in den seltensten Fällen mit einem großen Knall untergehen und im Chaos versinken. So etwas passiert allenfalls schleichend und über einen langen Zeitraum.

Stefan Brocza ist Experte für Europarecht und internationale Beziehungen. Lehrte auch Trend- und Zukunftsforschung an der Kunstuniversität Linz.

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