Erdoğans langer Arm in Österreich

Hüseyin Çiçek, Universität Wien, Türkei, Türkei-Wahl, Wien
Die Identitätspolitik der AKP beeinflusst viele Auslandstürken. Ein Gastkommentar von Hüseyin Çiçek.

Der Wahlsieg Erdoğans stellt für dessen Partei eine Garantie dar, ihre zentralen politischen Agenden ungehindert fortsetzen zu können. Die AKP verfolgt eine islamisch geprägte Identitätspolitik, die insbesondere auf Präsident Erdoğan ausgerichtet ist. Das Hauptziel dieser Strategie ist es, die eigene Wählerschaft sowie Nicht-Türken muslimischen Glaubens, von der auserwählten Rolle Erdoğans zu überzeugen und die Türkei als legitime Vertretung der islamischen Länder zu positionieren.

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Das Handeln Erdoğans beeinflusst natürlich auch die Auslandstürken und die Institutionen, die sie vertreten. Die Haltungen der EU oder der USA werden durch verschiedene türkische Akteure als unmoralisch, teilweise niederträchtig dargestellt, während Erdoğans Handlungen als moralisch überlegen, selbstlos und vor allem nicht nur zum Wohl der Türkei, sondern einer größeren muslimischen Gemeinschaft dargestellt werden. Durch den im Westen vorgeblich stattfindenden Wertewandel dient Erdogan als Leuchtfeuer für Tugenden, die heute offenbar an Wert verlieren.

Die Verbreitung dieser Identitätspolitik wird vor allem während Wahlen sichtbarer, da das Interesse an den Verbindungen zwischen den Auslandstürken und Ankara in den Fokus rückt. Viele Auslandstürken beobachten sehr genau, wie sich Erdogan von der traditionellen türkischen Außenpolitik abwendet. Sie nehmen sein Handeln als Vorbild, um eigene Interessen durchzusetzen bzw. ihre Haltung zu legitimieren. Meinungspluralität und Rechtsstaatlichkeit werden als Defizite verbucht, obwohl gerade diese Faktoren dafür sorgen, dass viele Nachkommen der Gastarbeiter heute wichtige Schlüsselpositionen einnehmen. Während Erdoğan und Teile der Auslandstürken Akzeptanz für ihre politischen Überzeugungen und Ziele einfordern, sind sie nicht bereit, die politische Autonomie und Selbstbestimmung anderer in gleichem Maße anzuerkennen.

Letztlich geht es darum, einen Weg zu finden, der sowohl den Bedürfnissen der türkisch-muslimischen Einwanderungsgesellschaft als auch denen der Mehrheitsgesellschaft gerecht wird, ohne dass dabei fundamentale demokratische Werte untergraben werden. Eine große Herausforderung besteht darin, politische und religiöse Einrichtungen der Einwanderungsgesellschaft in die Pflicht zu nehmen. Durch sie gewinnt die AKP sowie ihre illiberalen politischen Ansichten an Bedeutung. Nur durch ein klares Bekenntnis zum Verfassungsstaat kann sichergestellt werden, dass gesellschaftliche Spaltung sowie politische Radikalisierung eingedämmt werden können. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass Dialog und Austausch keinen Konsens schaffen müssen. Der Konsens muss lediglich darin bestehen, dass alle Teile der Gesellschaft den freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat als notwendige Rahmenbedingung für die Freiheiten aller akzeptieren.

Hüseyin Çiçek ist Türkeiexperte und Religionswissenschafter an der Universität Wien
 

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