Die verhagelten Kirchen

Joseph Ratzinger prägte als Theologe wie als Papst (2005–2013) das Antlitz des Katholizismus.
Das „System Ratzinger“ hat liberale Geistliche vertrieben. Ein Gastkommentar von Anton Grabner-Haider.

Bildhaft gesprochen leiden beide christlichen Kirchen unter Sturm- und Hagelschäden, die Dächer sind undicht geworden, alte Bilder bröckeln ab. Immer mehr wenden sich von den alten Lehren, Riten und Normen ab. Die Religionskritik hat gute Arbeit geleistet.

Religionen entwickeln sich weiter, das können auch die Kirchenleitungen nicht aufhalten. Doch diese verharren bei der Bewahrung des Alten. Für diese geistige Unbeweglichkeit stand vor allem der bayerische Theologe Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. In seinem „Geistlichen Testament“ (2023) schrieb er, er habe sein Leben lang gegen drei Irrlehren gekämpft; die Übersetzung des Glaubens in die moderne Welt (Hermeneutik), die historische und liberale Theologie und den „Kommunismus“ in der Kirche. Damit meinte er die Theologie der Befreiung. Seither liegt das „System Ratzinger“ wie ein bleierner Schleier über der Kirchenleitung. Es darf keine Veränderung geben, über Zölibat oder Frauenrechte in der Kirche darf nicht einmal diskutiert werden.

Die verhagelten Kirchen

Anton Grabner-Haider

Viele Laienchristen schämen sich heute wegen der Unbeweglichkeit der Kleriker und sind längst auf Distanz gegangen. Das „System Ratzinger“ hat überall den Sieg davon getragen. Der Pflichtzölibat der Priester wurde auf der Synode in Rom von 1971 verlängert, dabei wurde auf die Bischöfe Afrikas und Lateinamerikas finanzieller Druck ausgeübt, damit sie für das Eheverbot der Priester stimmten. Das bestätigte der Grazer Bischof Johann Weber. Daraufhin verließen 20 bis 25 Prozent der Priester ihr Amt, um heiraten zu können. Dies war der große Aderlass liberaler Kleriker, danach waren die Konservativen unter sich.

Auch die Evangelischen Kirchen sind bei ihren alten Lehren unbeweglich geblieben. Viele dieser Normen ergeben heute gar keinen Sinn mehr. Kritiker sprechen von „Religionsmuseen“. Dabei entwickelt sich Religion in den Köpfen und Herzen der Zeitgenossen weiter. Viele leben als Atheisten und Agnostiker, aber viele suchen nach neuen Formen der Spiritualität und der Sinngebung des Lebens. Dabei lassen sich viele der christlichen Lehren in die heutige Lebenswelt übersetzen. Doch kritische Zeitgenossen leben heute als Randchristen oder als Kulturchristen, sie schätzen aber noch die christlichen Moralwerte der Solidarität. Doch die Stimmen der Kirchenleitung werden schwächer, sie verlieren an Autorität und werden kaum noch gehört.

Doch könnten diese Stimmen im politischen Diskurs wichtig sein, wenn es um Zuwanderung, Fremdenhass oder Antisemitismus geht. Das „System Ratzinger“ hat die katholische Kirche über viele Jahrzehnte gelähmt. Es ist nicht sicher, ob diese Lähmung noch geheilt werden kann. Doch die religiösen Überzeugungen der meisten Zeitgenossen entwickeln sich weiter, auch ohne die Kirchen. Atheismus und Materialismus haben nicht das letzte Wort in der Deutung des Daseins.

Anton Grabner-Haider ist Religionsphilosoph an der Universität Graz.

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