Burgtheater: Anschwellendes Regisseurstheaterrauschen
Wir, die wir trotz allem noch ins Burgtheater gehen, haben uns schon lange an das Vorhersehbare und das Erwartbare gewöhnt. Wir, das sind die, die am Abend vor der Aufführung die alten Texte nachlesen, die unverbesserlichen Theateridioten, die in bürgerlicher Affektkontrolle den Impuls, das Abonnement zu kündigen oder während einer Aufführung zu gehen, unterdrücken und auch dann noch klatschen, wenn es schon lange nichts mehr zu klatschen gibt.
Wir, das sind die, die auf der Bühne nur als Gestrige, als Karikaturen und als Abneigung vorkommen, so wie der „Bildungsbürger“, die „Debile“ oder der „Geldsack“.
Das Vorhersehbare und das Erwartbare sind die Provokationen und Clownerien des affektierten Regisseurstheaters (Gerhard Stadlmaier), die noch jeden „hohen Text“, so er noch gesprochen und nicht zermatscht und zerbrüllt wird, auf das eigene, billige Identifikationsniveau herunterbrechen. Das Vorhersehbare und das Erwartbare ist die Lust, alles, was größer ist als das eigene, erlebnisarme Durchschnittsmaß, zurechtzustutzen, die Lust, auf den hohen Text einzuschlagen und ihn mikroportverstärkt herauszubrüllen, die Geilheit, in jeder ambivalenten, historischen Theaterfigur sofort ein zeitgenössisches Pendant zu finden.
Wenn die Männer – wieder einmal – die Hosen herunterlassen („Maria Stuart“ 2022), wenn durch eine riesige Spiegelwand und Jauchegestank der (Wiener) Gesellschaft ein Spiegel vorgehalten werden soll („Der Menschenfeind“ 2023), wenn Video, hysterische Endlosaktionen und Bewegung konsequent an die Stelle von Text und Empfindung treten („Heldenplatz“ 2024), dann rücken wir tiefer in die neuen, roten Samtsessel des Burgtheaters, und versuchen, so auf die Uhr zu sehen, dass es unser Theaternachbar nicht sieht.
Nehmen wir exemplarisch die erste und eine der letzten Inszenierungen der gerade zu Ende gegangenen Direktion Kušej, beide von Ulrich Rasche, die in bemerkenswerter Weise die in Langeweile erstarrte, rasende Erschöpfung des Regisseurstheaters illustrieren. Die erste Inszenierung waren die „Bakchen“ von Euripides, eine der letzten war Goethes „Iphigenie auf Tauris“. In beiden Inszenierungen marschiert ein rhythmisch stampfender Chor, der den Text herausbrüllt, herausächzt, auf einer ständig kreisenden großen Scheibe. Ulrich Rasche ist der King of Regisseurstheater. Jedem Text, jedem Autor, jedem Ensemble hämmert er die gleiche „One-trick-pony“-Inszenierung ein. Egal, was außen auf dem Programmheft steht, ob Euripides oder Goethe (oder Kleist, Büchner oder Sophokles), es ist immer Rasche drinnen.
Was wollen wir aber?
Wir wollen wieder staunen über das Funkeln der alten Texte, staunen mit einer gewissen Ehrfurcht und Scheu vor dem sich darin spiegelnden, größeren, verdichteten Leben. Wir wären bereit, ein lesendes, nachlesendes und sich wieder aufs Neue in das verdichtete Leben auf der Bühne einlassendes Publikum zu sein. Wir wären bereit für das Spiel mit der Wirklichkeit, die Erfahrung von etwas anderem und Fremden, die Erfahrung von Langsamkeit und Kompliziertheit. Wir wären bereit, aufbrechen zu Reisen in das Schöne, Erhabene, Unbekannte, unserem Alltag und seiner Sprache enthobene Poetische. Wir wollen gefordert und nicht „abgeholt“ werden von dort, wo das Regisseurstheater glaubt, dass wir uns befinden. Wir wollen verschont werden von den scheinaktuellen Stimmungsbetrügereien mit ihrer Ranschmeiße an das jeweils Angesagte und tagespolitisch Aktuelle, wir wollen Schauspieler sehen, die nicht ständig unterfordert wirken, wir wollen ein Schauspielerfest, das nicht zu Ende geht, kein billiges Entertainment, kein Theater als Affe seiner Zeit.
Kušej hat großartige Inszenierungen in Wien verantwortet, die sich in das Theatergedächtnis eingebrannt haben, denken wir an „König Ottokars Glück und Ende“ (2005), „Höllenangst“ (2006) und den „Weibsteufel“ (2008), der zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Umso höher und größer die Erwartungen, als er im zweiten Anlauf Burgtheaterdirektor wurde. Dass diese Erwartungen zum Teil nicht erfüllt worden sind, ist dem vorhersehbaren, gegenwartsbesoffenen Regisseurstheaterrauschen geschuldet, dem er sich in seinen eigenen und manchen fremden Inszenierungen nicht verschließen konnte oder wollte.
Vorhang. Abschwellender Applaus.
Martin Maxl ist Rechtsanwalt in Wien. Unterhält einen literarischen Salon, in dem auch kulturpolitische Fragen erörtert werden
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