Gestern der gefeierte Trumpf, heute die große Schwäche

Deutschlands Pleite beweist: Auch das große Fußballland urteilt kaum differenzierter.
Philipp Albrechtsberger

Philipp Albrechtsberger

Wenn Fußball die wichtigste NEBENSACHE der Welt sein soll, dann haben Experten und Medien in Deutschland etwas nicht ganz richtig verstanden. Verfolgte man gestern die Berichterstattung im Nachbarland, war nicht zwingend klar, was nun das entscheidendere Thema für Deutschlands Zukunft ist: der Asylstreit zwischen CDU und CSU oder die WM-Auftaktniederlage der deutschen Fußballer gegen Mexiko.

Fernab jeder Schadenfreude ist die Krisenstimmung beim Titelverteidiger ein gefundenes Fressen für Experten, Ex-Internationale und Medien jeder Qualitätsprägung. Zumindest ein wenig beruhigend ist die Tatsache, dass auch beim großen, mächtigen und oft so ausgeglichen wirkenden Nachbarn kaum differenzierter geurteilt wird als hierzulande.

Immerhin geht es hier um das Allerheiligste: Fußball! Da ist kein Platz fürs Innehalten.

Was bis vor Kurzem noch als absolute Stärke der deutschen Mannschaft galt (Stabilität, Linientreue, Erfahrung), wird Joachim Löw nun im Schadensfall prompt als Schwäche ausgelegt und der radikale Kurswechsel gefordert. Die älteste DFB-Elf seit der WM-Endrunde 2002 ist in den Augen vieler bereits überreif für die Team-Rente. Ungehört im kollektiven Aufschrei verhallt das Argument, die K.-o.-Runde sei noch aus eigener Kraft zu erreichen.

Wie ausgelöscht

Gelingt das derzeit kaum für möglich Gehaltene doch noch, könnte als Vorrundenzweiter im Achtelfinale Brasilien warten. Wie soll Deutschland da bloß bestehen? Das 7:1 aus dem WM-Semifinale 2014, als identitätsstiftend für eine gesamte Fußballer-Generation im Gedächtnis verankert, scheint mit einem Spiel ausgelöscht.

Wie so oft mit der nötigen Souveränität und Gelassenheit tritt – zumindest in der Öffentlichkeit – Teamchef Joachim Löw auf. Er weiß nur zu gut, dass eine WM nicht in der Vorrunde gewonnen wird.

Als alarmierender müsste ein Satz von Mexikos Teamchef Juan Carlos Osario aufgefasst werden, dem nur die wenigsten Beachtung schenkten: „Den Matchplan haben wir vor vielleicht sechs Monaten aufgestellt.“ So berechenbar ist das Spiel des Weltmeisters. Wobei: Auch beim WM-Sieg 2014 war nicht unbedingt die Variabilität der große deutsche Trumpf.

Und selbst wenn Joachim Löw die Zeichen der Zeit vor Monaten erkannt haben mag, alles andere als das Ziel WM-Titelverteidigung hätte man der DFB-Auswahl nicht durchgehen lassen. Aber auch in Deutschland ist das Reservoir an Ausnahmespielern langsam erschöpft. Das einzig nennenswerte WM-Debüt betraf gegen Mexiko einen 29-Jährigen (Marco Reus). Die Weltmeister-Liga steht seit Jahren im Schatten der englischen und spanischen Spielklasse. Das letzte deutsche Highlight auf Klubebene war das Champions-League-Finale zwischen den Bayern und Dortmund.

Das ist fünf Jahre her. Eine Ewigkeit im Fußball.

philipp.albrechtsberger@kurier.at

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