Brexit: Europa hat auch anderes zu tun

Die demokratische Selbstzerfleischung seines ohnehin lästigsten Mitglieds sollte ein Ende haben.
Konrad Kramar

Konrad Kramar

Allmählich entgleitet auch den politischen Routiniers in Brüssel ihr diplomatischer Kammerton. „Auf die Nerven gehen“ würden die Briten allen anderen, und man „habe eine Menge anderer Dinge zu tun“. Wie wahr! Das inzwischen zur Farce verkommene Brexit-Theater nimmt die EU-Spitzenvertreter derart in Beschlag, dass andere überfällige Reformen nicht vom Fleck kommen: EU-Budget, Zuwanderungspolitik, Grenzschutz, Digitalsteuer, um nur einige zu nennen. Zugleich aber steht man in London exakt dort, wo man durch ein von Populisten raffiniert gehandhabtes Referendum im Sommer 2016 gelandet ist: Man gibt sich entschlossen, die EU zu verlassen, und hat keine Ahnung, wie.

Eine Gelegenheit, um sich kurz an die Rolle Großbritanniens zurückzuerinnern, die ja vor allem in Deutschland und Österreich gerne verklärt wird: So als wäre London die Schutzmacht der Marktwirtschaftler gegen die vermeintlichen Geldverschwender im Süden und die EU-Zentralstaats-Fantasten in Paris. Nüchterner betrachtet, war Großbritannien seit seinem Beitritt 1973 vor allem damit beschäftigt, Fortschritte in der EU zu verzögern, wenn nicht zu blockieren. Ob es nun um den Euro ging, die europäische Justiz, oder eine gemeinsame Steuerpolitik: London briet nicht nur für sich selbst eine Extrawurst, sondern suchte sich auch gerne Verbündete bei den EU-Skeptikern in Osteuropa. Dass die EU heute auf halbem Weg zwischen Staatenbund und Bundesstaat feststeckt, ist zu einem nicht unwesentlichen Teil London zu verdanken. Zeit also, der Brexit-Wehmut wieder etwas europäisches Denken folgen zu lassen.

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