Einsamkeit, die unterschätzte Seuche

Die individuelle Gesellschaft hat eine Kehrseite. Was man gegen die neue Volkskrankheit tun kann.
Martina Salomon

Martina Salomon

Alle reden über die nächste Eskapade von Präsident Trump? Übers Skifahren am Semmering, über Mafiamord und Kirchen-Überfall in Wien? Ja sicher. Aber in dieser Weihnachtswoche ging eine KURIER-Online-Story über mehrere Tage „durch die Decke“, wie wir Journalisten sagen: 137.000 Zugriffe auf den Titel: „In diesen drei Lebensphasen sind Menschen am einsamsten“. (Angeblich Ende 20, Ende 50 und Ende 80.) Damit haben wir nicht gerechnet.

Einsamkeit scheint sich tatsächlich zur Volkskrankheit zu entwickeln. Kein Wunder: Der traditionelle Familienverband ist lockerer geworden, was als soziologische Tatsache noch nicht schlecht sein muss. Man kann sich seine Lebensform individuell aussuchen. Die alte Großfamilie war ja keineswegs immer eine Bullerbü-Idylle, sondern bedeutete auch Streit, Unterdrückung, finanzielle Abhängigkeit, Schweigen. Und selbstverständlich kann man sich auch in einer (scheinbar) intakten Familie oder im Großraumbüro einsam fühlen.

Die Kehrseite der individuellen Freiheit: Man schaut viel weniger auf den Nächsten, delegiert soziales Verhalten an Behörden und Sozialeinrichtungen, vor allem in Städten. Der Politik wird das da und dort bewusst. Großbritannien geht das Einsamkeitsproblem mit einem eigenen nationalen Plan an und hat ein Pilotprojekt gestartet. Post-Mitarbeiter werden geschult, auf ihren Routen mit alleinlebenden, einsamen Menschen zu reden und ihre Familien im Notfall zu kontaktieren. Früher, als die Post (und die Rente und das Markerl fürs Parteibuch) noch zur Wohnungstüre getragen wurde, war der Briefträger tatsächlich auch ein „Sozialarbeiter“.

Vorbeugung durch Erziehung

Ob das heute noch funktioniert? In Wien setzt man plakativ auf „Miteinander“-Initiativen und Appelle für gegenseitigen Respekt. Die Arzt-Ordinationen sind voll von älteren Einsamen, die vor allem Ansprache suchen und/oder an den Folgen von Einsamkeit leiden: Krankheitsanfälligkeit und Depression. Das Phänomen trifft aber auch Junge – abseits der Pubertät, wo es „normal“ ist, sich phasenweise schrecklich allein zu fühlen. Wobei nicht schlüssig ist, ob Kinder in den Weiten des Internets einsamer werden: Denn schließlich kann man dort auch bestens mit anderen tratschen. Wenn sich diese Kontakte allerdings nie „materialisieren“ und Jugendliche nur noch im Virtuellen unterwegs sind, ist Gefahr im Verzug.

Einsamkeitsvorbeugung beginnt schon in der Erziehung, sagt Manfred Spitzer, deutscher Psychiater und Autor („Digitale Demenz“). Er fordert von Eltern zu Recht, ihren Kindern Gemeinschaftssinn beizubringen, statt sie zu selbstverliebten Egozentrikern zu erziehen.

Im Grunde ist der Mensch tatsächlich ein „Herdentier“, dauerhafte Einsamkeit macht ihn unglücklich, Isolation kann töten. Sollten wir mehr aufeinander schauen? Auch auf den Sitznachbarn in der U-Bahn, die schweigsame Kollegin und den mürrischen alten Nachbarn? Wäre vielleicht ein guter Vorsatz fürs neue Jahr.

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