Ein Pro und Kontra mit sich selbst

Im Zeitalter der schnellen Antworten ist für Reflexion kaum noch Platz. Sehr schade.
Gert Korentschnig

Gert Korentschnig

Haben Sie sich heute früh schon Ihre Meinung gebildet? Ist die KURIER-Umfrage zur EU-Wahl erhellend oder entbehrlich? Ist unser Cover zu den Royals wahnsinnig komisch oder völlig übertrieben? Und haben Sie unseren Schwerpunkt zum Thema Angst in der Politik schon gelesen und meinungsmäßig abgehakt? Falls ja: Wie viel Zeit haben Sie sich selbst zur Meinungsbildung eingeräumt?

Wir leben heute – leider! – im Zeitalter der schnellen Likes und haben die (goldene) Epoche der Reflexion hinter uns gelassen. Wir werden angehalten, uns binnen Bruchteilen von Sekunden eine Meinung zu allem und jedem zu bilden. Daumen rauf oder Daumen runter, ohne dass wir uns wirklich mit einem Thema beschäftigt haben.

Dieser Meinungsterrorismus ist eine echte Gefahr. Er spielt, ebenso wie der echte Terrorismus, mit Ängsten und macht Angst. Er sorgt dafür, dass die Gesellschaft auseinander driftet. Dass alles in Gut und Böse, in Rechts und Links, in Ich und Du, in Wir und Ihr eingeteilt und damit getrennt wird. Und auf alle Zeiten in dieser Schublade bleibt. Meinungswandel so gut wie ausgeschlossen. Ist es nicht traurig, dass so viele von uns da mitmachen? Und dass auch zahlreiche politische Repräsentanten auf Eskalation statt auf Argumente setzen? Ihre Saat ist aufgegangen.

Magenkrämpfe

Nehmen wir ein Beispiel, das ideal zur raschen Meinungsbildung geeignet ist: Migration. Kaum ausgesprochen, sorgt das Wort bei vielen für Schmerzen. Die einen kriegen Magenkrämpfe, weil sie die Stimmungsmache mit Flüchtlingen für unerträglich halten. Die anderen bekommen Panik vor der Islamisierung. Eine analytische Auseinandersetzung ist mittlerweile unmöglich. Aber warum eigentlich? Kann man nicht einfach Gedanken austauschen und nach intensiv geführter Debatte zu einem Schluss kommen, der im Idealfall sogar ein vorläufiger ist?

Anderes Beispiel: die aktuelle Regierung. Einige haben Herzerl in den Augen, sobald sie an die feschen Herren denken, andere scheinen nur auf einen neuen Fehltritt oder eine Provokation einer Partei zu warten (was leider regelmäßig und verlässlich eintritt). Wäre es nicht – rein theoretisch mal – möglich, an der Regierung Kritik zu üben, rote Linien genau zu überwachen, rechtsextremistische Ausreißer der einen Partei aufs Schärfste zu verurteilen, dann aber manche Reformen und koalitionäre Fortschritte zu erkennen und zu Lobendes tatsächlich zu loben? Vor allem aber auch einzugestehen, dass es zur Zeit keine mit freiem Auge erkennbare Alternative gibt?

Diese Themenliste ist beliebig verlängerbar, von der Kriminalstatistik (warum wird uns andauernd Angst gemacht, wenn immer weniger passiert?) bis zu Listenhunden (sind die wirklich das Problem oder nicht vielmehr manche Halter?).

Wie wichtig ist doch heute ein Pro und Kontra, zunächst einmal mit sich selbst. Ein Thema betrachten, Argumente aufnehmen, analysieren – und dann mit Erkenntnisgewinn die Position des Gegenübers einbinden. Vielleicht sogar ohne ein klares Ergebnis, mit Fragezeichen statt mit Antworten. Aber dafür gibt’s halt leider wenig Zustimmung im Netz der Meinungsradikalinskis.

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