Ein Europa, das Freunde verbindet

Die Jugendlichen stehen heute vor einer völlig anderen Welt: Ihr Europa ist paradoxerweise größer und kleiner geworden.
Julya Rabinowich

Julya Rabinowich

Ein Gastkommentar von Julya Rabinowich

Als ich 15 Jahre alt war, befand sich die Welt, in der ich lebte, in beruhigend beunruhigender Festlegung. Sie war geprägt von Grenzen, die sich in Europa zwischen Ost und West gelegt hatten. Diese stacheldrahtbewehrten Grenzen, deren Überwindung damals noch den Tod bedeuten konnte. Der Ostblock hörte am Eisernen Vorhang auf zu existieren. Die Welt war im Atemanhalten des Kalten Krieges erstarrt, und Wien war eine kleine, gut besuchte Insel dazwischen.

Als ich 19 war, begann diese so stabil scheinende Erstarrung zu beben. Die Euphorie, die Freiheitstrunkenheit, der kreative Austausch entlang der gefallenen Mauer waren unvergesslich. Die Aufbruchsstimmung, das Unerforschte, dennoch auch Gemeinsame. Weil ich den Mauerfall selbst erleben und erfühlen konnte, ist er für immer bei mir. Kein Unterrichtsmaterial, keine Rede anderer hätte jemals diese Intensität erzeugen können.

Die Jugendlichen stehen heute vor einer völlig anderen Welt: Ihr Europa ist paradoxerweise größer und kleiner geworden. Die Jugendlichen haben diese Offenheit der multiplen Möglichkeiten, die wir erst nach und nach zu nutzen lernten, in ihre Wiegen gelegt bekommen, ein Geschenk der guten Feen. Ihnen steht ein weites Land offen, in dem sie ihren Platz suchen können. Um diese Chancen zu ergreifen, muss man sich ihrer aber auch bewusst sein.

Nach Sternen greifen

Die jungen Menschen sollen sich zutrauen können, nach den Sternen zu greifen. Es können durchaus auch Sterne auf blauem Hintergrund sein. Macht sie darauf neugierig! Gebt ihnen Mut mit auf ihrem Weg! Sie sind das vereinte Europa von morgen. Sie werden es prägen, mit ihnen wird es weiterexistieren und wachsen oder sein Gesicht erneut verändern.

Was sie benötigen werden, sind gemeinsame Geschichte und Erfahrungen. Und Glaubwürdigkeit. Niemand durchschaut faule Ausreden besser als Jugendliche, die bei sich sind. Aber was benötigt man, um bei sich zu sein? Man benötigt Selbstvertrauen und Kritikfähigkeit. Wer gelernt hat, kritisch zu hinterfragen, geht Fake News nicht auf den Leim, und auch diversen Hetzversuchen nicht. Das erlernt man durch gegenseitigen Respekt.

Und es bedeutet, nicht von täglichen Existenzsorgen gequält zu werden. In einem Europa, in dem die Jugendarbeitslosigkeit ein reales Problem ist, muss man den Boden unter den Füßen haben, um nach den Sternen zu greifen. Rattenfänger lauern auf alle, die sich aus Angst und Verzweiflung leicht verführen lassen. Und die besten Rezepte gegen Rattenfänger sind Wertschätzung und Förderung.

Scheuen Sie die Konfrontation nicht! Demografische Entwicklung, Migration und vor allem auch der Klimawandel werden die Zukunft maßgeblich beeinflussen. Es ist nur gut und richtig, dass junge Menschen Antworten erwarten. Und noch wichtiger ist, dass sie Fragen stellen. Immerhin sind sie es, die Antworten auf Fragen finden müssen, die noch gar nicht gestellt worden sind.

Es wird gekämpft, gezogen und gestritten. Die einen leugnen den wissenschaftlich belegten Klimawandel, die anderen negieren die Folgen ungerechter Ressourcenverteilung, die Dritten wollen die Vorteile, die sie von der EU beziehen, wieder kleinreden, um politisches Kleingeld zu schlagen. Wenn man sich das Drama vor Augen führt, das der Brexit auf die Leinwand des gemeinsamen Europas gemalt hat, wird man erkennen, in welch bluternster Weise dieser Prozess junge Britinnen und Briten betrifft, die überwiegend für das Verbleiben gestimmt hatten, weil sie an das Gemeinsame glaubten.

Gegenseitiges Erkennen

An was glaubt man, wenn man an das vereinigte Europa glaubt? Gebt den Jugendlichen Möglichkeiten, es zu entdecken! Lasst sie teilhaben! Lasst sie lernen! Lasst zu, dass sie in regem Austausch sind, miteinander, aber auch mit Behörden und Politik! Sie sollen den Unterschied zwischen Vielfältigkeit, dem Miteinander, und dem Rückzug ins kleine, ausschließlich Nationale, erleben können, um die Vorteile zu begreifen, die sie von der Vielfältigkeit haben. Ein gemeinsames Europa gelingt mit gemeinsamer Verbundenheit. Für diese braucht es gegenseitiges Erkennen und jene Annäherung, die das Fremde zu etwas Vertrautem macht.

Zersplitterndes „wir“

Will Europa seine Jugendlichen erreichen, muss intensiv an diesem Annähern gearbeitet werden: durch Reisen, gemeinsame Aufgaben, durch Zusammenwachsen. Dieses Gemeinsame ist das Gegengewicht

zu dem zersplitternden „wir“ und „die“, der Widerspruch zu Nationalismus, der Europa dorthin zurückführt, wohin man den Weg nicht mehr beschreiten wollte.

Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt. Wer die Neugier und die Begeisterungsfähigkeit junger Menschen nicht weckt und nicht hegt, der wird keine Bindung zu ihnen aufbauen können. Der Verlust wäre verheerend. Es geht schlicht um nichts Anderes als um unsere Zukunft. Eine Zukunft, die uns alle betreffen wird. Die Jungen. Die Alten. Alle. Eine Gesellschaft, die nicht an ihre Zukunft denkt, wird dem Zufall ausgeliefert sein. Und eine Gesellschaft, die nicht an die Zukunft ihrer Kinder denkt, stirbt.

Passagen aus einer Rede, gehalten in Wien bei der Tagung des Netzwerks „Europa in der Schule“.

Zur Person: Julya Rabinowich
Die Autorin, 1970 in Leningrad geboren, wurde 1977 „entwurzelt & umgetopft nach Wien“. Sie studierte Dolmetsch und Malerei; Ihr Debüt „Spaltkopf“ (2008) war ein großer Erfolg. Zuletzt: "Krötenliebe" und "Dazwischen: Ich".

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