Nun ist hinlänglich bekannt, dass in der Theorie alles möglich ist: Aus einem Wahlsieg folgt kein Recht auf den Bundeskanzler, nicht einmal auf Regierungsbeteiligung, der Bundespräsident muss überhaupt niemandem einen Auftrag zur Regierungsbildung erteilen, sondern kann eine Person seiner Wahl – Sie, liebe Leserin, beispielsweise – zum Kanzler ernennen etc. Vor ziemlich genau einem Jahr, am Vorabend seiner zweiten Angelobung, hat Van der Bellen in einem ausführlichen ORF-Interview genau zu diesen Fragen Stellung genommen und dabei (wenig überraschend) klar erkennen lassen, dass er alles tun wird, damit FPÖ-Chef Herbert Kickl nicht Bundeskanzler wird (Volkskanzler kann er ohnedies nicht werden, denn dieses Amt sieht die Verfassung nicht vor).
Aber in Wahrheit ist „alles“ letztlich nicht sehr viel. Das weiß natürlich auch Van der Bellen, der gewiss bei seinem Vorvorgänger Thomas Klestil nachgeschlagen hat. Dementsprechend vorsichtig hat er sich auch ausgedrückt: „Eine antieuropäische Partei, eine Partei, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht verurteilt, werde ich durch meine Maßnahmen nicht noch zu befördern versuchen“, formulierte er damals; und fügte noch hinzu: „Damit können Sie rechnen.“ Auch dass er nicht nur der Verfassung, sondern auch seinem Gewissen verpflichtet sei, führte der Bundespräsident aus – und auch „darauf können Sie sich verlassen“.
VdB selbst kann sich nur auf sein politisches Fingerspitzengefühl verlassen bzw. darauf, dass es ihm gelingt, die handelnden Personen von SPÖ, ÖVP, Grünen und/oder Neos zur Bildung einer Regierung ohne FP-Beteiligung zu bewegen. Diese freilich würde von Kickl nicht ganz zu Unrecht als „Koalition der Verlierer“, „FP-Verhinderungskoalition“ und dergleichen mehr vorgeführt – mit erwartbarer Resonanz: nicht nur bei der eigenen Anhängerschaft, sondern auch bei nicht wenigen bürgerlichen Wählern, die weder SPÖ noch Grüne in einer Regierung haben wollen.
Wir müssen uns Alexander Van der Bellen als einen glücklichen Menschen vorstellen.
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