KOITIERWUT

So ist das Leben: Manche Freigeister brauchen exzessive Phasen, um sich zu spüren oder aber, um sich weiterzuentwickeln. Okay! Ob aber Non-Stop-Swingersex und Gang-Bang-Orgien auf Dauer wirklich zur persönlichen Erleuchtung beitragen, darf bei aller
Gabriele Kuhn

Gabriele Kuhn

Ach weißt du, manchmal brauche ich es eben so richtig tief." Ich lese diesen Satz gerade im Werk "Abwärts" (Czernin Verlag), einer lesenswerten Anthologie des Niedergangs. Darin schildern Autorinnen und Autoren wie z. B. Angelika Hager, Ela Angerer oder Thomas Glavinic Phasen des Scheiterns. Persönliche Tiefpunkte, die so mancher zu brauchen scheint, um sich am Ende selbst begegnet zu sein. Mit allem, was an Tief-Gängen dazugehört: Sexunfälle, Koksexzesse, dreckige Feste an dreckigen Orten. Das erinnert mich an L. Die L kommt vom Land, wo es seinerzeit so war: beschaulich, traditionell, fad. Zu fad. Daher zog sie in die Stadt - und seither gibt's das Öd-Triangel "beschaulich, traditionell, fad" in ihrem Leben nur mehr phasenweise. L ist eine, die zwei Wochen in einem Stück daheim sitzen kann, um sich fünf Trachtenjanker zu stricken. Um es dann Monate "richtig tief zu brauchen." Der klassische Fall zyklisch gelebter GZSZ - gute Zeiten, saumäßige Zeiten. Das muss - so Ls Sicht - sein. Weil sie, wie mir von ihr immer wieder brennenden Blicks erklärt wird, "nur so das Leben spüren kann." Bei L definiert sich das über schmutzigen, zuweilen extrem schmutzigen Sex. Das gefilterte, reduzierte, primitive Ficken - maschinenhaft-mechanische Sexualität. Extremismus, zwischen Lust und Schmerz und ohne irgendwelche Liebesschnörksel. Für viele schwer nachzuvollziehen, weil die meisten von uns glauben, dass "normales" Sexualverhalten irgendwo, irgendwann das Elementarteilchen Liebe inkludieren sollte. Also hätten wir gerne die Telefonnummer des Lovers oder wenigstens eine SMS von ihm - mit Aussicht auf werweißwasschon. Darauf pfeift L und gibt sich's: Gang Bang, Parkplatz- und Swingersex, anonymer Sex, schneller Sex. Mit Männern, deren Gesicht sie niemals gesehen hat. Ich tu mir schwer damit. Freigeist ja - aber dann doch: hm. Bin echt keine Spießerin, suche aber nach einem Motiv für L's Koitierwut. Ja, fast jeder Mensch hat Ausreißer in seiner sexuellen Biografie. Auf zehn Mal kommt ein Fick samt diesem Erlebnis-Package, das uns anderntags verkatert fragen lässt: Wer bin ich? Wo bin ich? Und was machen diese fremden Schamhaare in meinem Gesicht? Ich sage: Das darf passieren, es ist Teil einer existenziellen Suche nach Lebens-Gefühlen. "Zärtlichkeit schafft das genauso wie eine Orgie im Swingerclub." (Michelle Houellebecq). Das mag (individuell) passen - auch, um zu lernen: Shit, Korrektur, zurück auf Feld eins! "Jeder hat das Recht auf seinen eigenen Untergang", zitiert Autorin Angerer den deutschen Dramatiker René Pollesch. "Sich davon wieder zu erholen und daran zu wachsen, das ist die eigentliche Kunst." Ja, so ist es. Aber L? Ich will nicht moralisieren, doch mit einem libertin-spielerischen Lernprozess hat das nichts mehr zu schaffen. L tut, was sie tut, monoton und seit Jahren - ohne je weiterzureisen. Dabei schaut sie immer weniger frisch aus, müde gar. "Liebe ist überbewertet", sagt sie. Es klingt freudlos. Ich glaube ihr nicht. Ich glaube, dass sie beim Stricken in die Wolle weint. Und dass sie den Keuschheitsgürtel an der falschen Stelle trägt - am Herzen, nämlich.

Kommentare