Sensationelle aber konservative Wahl

Michaele Haneke durfte zum zweiten Mal in Cannes triumphieren.
Cannes-Blog, Teil 6: Bei der Jury in Cannes herrschte zu Mittag noch schlechte Stimmung, ehe sie schließlich die Gewinner verlauten und Haneke triumphieren ließ.
Alexandra Seibel

Alexandra Seibel

Bis Samstag zu Mittag hatte die Jury in Cannes noch heftig gestritten, an wen sie nur wenige Stunden später die Hauptpreise des Filmfestivals 2012 vergeben sollte. Totale Uneinigkeit und schlechte Stimmung habe geherrscht, so Eingeweihte, ehe die Preis-Jury schließlich unter dem Vorsitz von Nanni Moretti die Gewinner verlauten ließ. Offensichtlich war es kein Leichtes, so unterschiedliche Menschen wie Modedesigner Jean Paul Gaultier, die britische Regisseurin Andrea Arnold, US-Filmemacher Alexander Payne oder Schauspieler wie Diane Kruger und Ewan McGregor unter einen Hut zu bekommen.

Die letztendliche Palmen-Entscheidung aber ist schließlich sensationell und konservativ gleichermaßen. Schon im Vorfeld hatte Michael Hanekes hervorragender, zärtlich-grausamer Liebesfilm "Liebe" neben Cristian Mungius rumänischem Exorzisten-Drama "Beyond the Walls" zu den Favoriten gezählt. Aber der österreichische Regisseur hat bereits 2009 die Palme für "Das weiße Band" bekommen, und es war nicht abzusehen, ob an seiner Stelle eventuell einer seiner grandiosen Schauspieler – etwa der wunderbare Jean-Louis Trintignant – einen Preis als bester Hauptdarsteller bekommen und damit "Liebe" veredeln würde.

Dass Haneke schließlich aber doch wieder die Goldene Palme bekam, ist tatsächlich ein unglaublicher Triumph für den österreichischen Regisseur, dessen Blick auf die Menschen in seinem neuen Film eindeutig liebevoller geworden ist als in seinen Arbeiten davor.

Radikale Kunst?

Internationale Journalisten-Twitterer hatten übrigens voll auf Grete Tiesel aus Ulrich Seidls "Paradies: Liebe" als Kandidatin für die beste Schauspielerin gesetzt: Viele hätten es gut und mutig gefunden, wenn Tiesel als nicht mehr ganz junge und etwas übergewichtige Kenia-Reisende, die am Strand Beach Boys aufreißt, einen Preis gewonnen hätte. Stattdessen gewannen die beiden jungen Hauptdarstellerinnen Cosmina Stratan und Cristina Fluturin aus Mungius  hermetischen Klosterfilm "Beyond the Walls" diese Auszeichnungen. Und tatsächlich sind die beiden etwas unheimlichen Freundinnen, die manchmal wirken als kämen sie direkt aus einem Gothic-Horror Film, wirklich toll. Trotzdem wäre Grete Tiesel als Preisträgerin das stärkere Statement von Seiten der Jury gewesen.

Bis zuletzt war angeblich auch Ulrich Seidl für einen Regie-Preis im Gespräch – doch da war Nanni Moretti, ein deklarierter Seidl-Gegner, davor. Der Mexikaner Carlos Reygadas erhielt dafür für sein prätentiöses, zerfahrenes Gesellschaftsdrama "Post tenebras lux" den Preis für die beste Regie – wahrscheinlich, weil er die ganze Zeit mit einer an den Bildrändern leicht verzerrenden Linse filmte, was manche womöglich für radikale Kunst hielten. Und dass der Brite Ken Loach für sein freundlich-belangloses Komödchen "The Angels’s Share" auch noch einen Jury-Preis  ausfasste, grenzt ans Lachhafte.

Völlig übergangen wurde mit diesen Preis-Entscheidungen damit beispielsweise der tatsächlich radikale Außenseiter des französischen Kinos, Leos Carax, dessen abgefahrener Film "Holy Motors" keine Erwähnung fand. Insofern erscheint es dann auch schon weniger verwunderlich, dass auch ein so radikaler Film wie David Cronenbergs kühle Kapitalismus-Studie "Cosmopolis" unter den Tisch fiel.

Doch konservative Entscheidungen hin oder her: Die zweite Goldene Palme für Michael Haneke ist ein sensationeller Erfolg für einen großen, unbeirrbaren österreichischen Filmemacher und seinen großartigen Film. Und wer weiß, vielleicht überlegen es sich die offiziellen Vertreter der österreichischen Kulturpolitik beim nächsten Mal besser und schauen doch persönlich vorbei, wenn österreichische Filmemacher auf dem wichtigsten Festival der Welt ihren Film präsentieren.

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