ORF-Doku: "Alle Dinge waren transparent geworden"

Welt der Wunder zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Hier fliegt ein Auto. Später gab es den Ersten Weltkrieg.
Unsere tägliche Begleiterscheinung: "Der taumelnde Kontinent" auf ORF2. Sensationelles Fernsehen.
Philipp Wilhelmer

Philipp Wilhelmer

Großartiges Fernsehen! Nur wer hat es auf 22.40 Uhr verräumt?

von Philipp Wilhelmer

Über die ORF-Doku "Der Taumelnde Kontinent"

Ich gebe es zu: Den eigentlichen Sendetermin habe ich nach einer anstrengenden vorweihnachtlichen Woche nicht mehr geschafft*. Um 22.40 Uhr habe ich den Fernseher einfach nicht mehr aufgedreht.

Es ging Ihnen auch so? Schade. Denn auf ORF2 lief am Freitagabend ein sensationelles Stück Fernsehen. Der Universum History-Zweiteiler "Der taumelnde Kontinent" lieferte einen grandios zusammengestellten Überblick über die Jahre vor den Verheerungen des 1. Weltkriegs.

ORF-Doku: "Alle Dinge waren transparent geworden"

Im ersten Teil führt der deutsche Historiker und Autor Philipp Blom durch den zerfallenden Kontinent Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, lässt Weltausstellungen, technische Revolutionen, revolutionäre Erfindungen und gesellschaftliche Aufstände wieder auferstehen. Wie der Mann die Fäden zwischen den einzelnen Staaten, zwischen fallenden Dynastien und neuen Aufsteigern, zwischen Kunst und Physik verknüpft, ist schlicht sensationell. Und sympathischerweise besucht er auch selbt die Originalschauplätze.

Blom zeigt eine Welt, die in die Moderne geschleudert wird: Maschine gegen Mensch, Chemie und Physik gegen die Wahrnehmung, die Kunst gegen das Gestern. Man sieht eine Welt, die ihren neuen Ansprüchen nicht mehr ausreichend gewachsen ist.

Und Blom schafft es, dabei subtile Brücken in die Gegenwart zu schlagen. Die Parallelen zwischen damals und heute sind unverkennbar: Technische Revolutionen, bröckelnde Wirtschaftsgrundlagen, entfesselte Aktienmärkte, geopolitische Verwicklungen. Die Vorboten der Globalisierung kamen, die Menschen flüchteten sich in ihre Innenschau, in Freizeitvergnügungen und in die Kunst. Andere waren zu elenden Existenzen verdammt und schufteten für den Wohlstand anderer.

Nicht einmal die Avantgarde umarmte die Neuerungen: "Alle Dinge sind transparent geworden, ohne Kraft oder Sicherheit", beklagte etwa der Expressionist Wassily Kandinsky, als die Struktur der Atome ahnbar wurden. Er trat die Flucht vor der Moderne an und erforschte lieber Naturvölker. Großartiges Fernsehen. Nur wer hat es auf 22.40 Uhr verräumt?

FAZIT: Eine inspirierte und kraftvolle Geschichtestunde. Teil 2 läuft am 27. Dezember und sei hiermit sehr empfohlen. Und wer gestern ebenfalls schon geschlafen hat, kann sich ja vielleicht mit der TVthek trösten.

* Zu meinem Journalisten-Glück gab es eine Rezensions-DVD.

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