Und was bitte sollte ausgerechnet Karl Nehammer ausrichten, Regierungschef eines neutralen Kleinstaats? Aber genau in dieser verfahrenen Situation war Österreich vermutlich ein ideales Land, um einen kleinen Vermittlungsversuch zu starten. Der Druck auf Olaf Scholz, Ursula von der Leyen oder Boris Johnson nicht mit leeren Händen zurückzukommen bzw. von Russland nicht für Propagandazwecke missbraucht zu werden, wäre ungleich größer gewesen. Nehammers Besuch geschah durchaus in Absprache mit dem ukrainischen Präsidenten, der EU-Spitze sowie dem türkischen Präsidenten Recep Erdoğan, der sich in den Istanbuler Friedensgesprächen als neutrale Plattform angeboten hatte. Diese werden auch weitergehen.
Nehammer ist der erste Chef eines EU-Staates, der seit Kriegsausbruch zu Putin gereist ist. Ein günstiger Zeitpunkt, hat sich doch ein kurzes Zeitfenster mit geringeren Kampfhandlungen vor der nächsten großen Offensive geöffnet. Nehammer deponierte bei Putin den Wunsch des ukrainischen Präsidenten Selenskij nach humanitären Korridoren in der umkämpften Ostukraine und sprach die katastrophale Lage und die russischen Kriegsverbrechen an. Bei Selenskij war er am Samstag doppelt so lange geblieben, wie ursprünglich vereinbart.
Aber war Nehammer – erst seit Kurzem Kanzler und ohne diplomatische Erfahrung – überhaupt der richtige Mann für so eine Mission? Zumindest seine militärische Sozialisation war möglicherweise hilfreich. Das Gespräch mit Putin sei „sehr direkt, offen und hart“ gewesen, sagte der Kanzler danach.
Die Häme, die sich teilweise noch vor Reiseantritt über Nehammer ergoss, ist allerdings nur noch absurd. Warum verurteilen selbst eingefleischte Pazifisten einen Dialogversuch? Jede Chance, Putins Wahn zu stoppen, ist doch jeden Versuch wert! Immerhin hat Österreich wieder zu der Rolle gefunden, die eines neutralen Landes würdig ist: Wir sind solidarisch mit den Opfern des brutalen russischen Angriffskriegs und teilen die EU-Sanktionen. Aber wir sind auch ein vertrauenswürdiger Vermittler und diplomatischer „Eisbrecher“ mit jahrzehntelangen guten Beziehungen zu Russland. Vielleicht hilft das jetzt zumindest ein wenig.
Auch die derzeit unterbrochenen Atomverhandlungen mit dem Iran unter russischer Teilnahme finden in Wien statt. Selbst wenn der Moskau-Besuch für den Moment ergebnislos bleibt, schadet er Österreich nicht, im Gegenteil. Ein neutrales – nicht gesinnungsloses – Land hat immer das Gespräch zu suchen. Daher war der Bundeskanzler in Kiew und in Moskau. Kein Grund, sich dafür zu genieren.
Kommentare