100 ungewöhnliche Tage

100 ungewöhnliche Tage
Die türkis-grüne Krisenbewältigung ist richtig, aber der obrigkeitsstaatliche Spuk muss dennoch so schnell wie möglich wieder weg.
Daniela Kittner

Daniela Kittner

Türkis-Grün ist heute 100 Tage im Amt. Rund um dieses Datum hätten die Medien erste Bilanzen veröffentlicht: Haben die Grünen gegen die ÖVP ökologische Markierungen durchgebracht? Leidet die Wirtschaft unter zu viel „öko“? Wie kommen grüne Querdenker mit den Kontrollfreaks im Kanzleramt zurecht? Gernot Blümel hätte heute wohl sein Nulldefizit gefeiert, und Leonore Gewessler vielleicht ein österreichweites Öffi-Ticket angepriesen.

Doch was passierte tatsächlich? Ein grüner Minister schränkt per Verordnung die Grundfreiheiten der Bevölkerung ein, und der türkise Finanzminister gibt „Was immer es kostet“ als wirtschaftspolitische Maxime aus. Das Coronavirus hat nicht nur unseren Alltag auf den Kopf gestellt. Es hat auch die Politik kalt erwischt.

Eine Zahl zum Vergleich: In der Finanzkrise vor zehn Jahren sind rund 400 Betriebe in Kurzarbeit gegangen. Derzeit liegen 40.000 Kurzarbeitsanträge von Firmen beim AMS. Selbst langjährige Politiker, die die vergangenen 50 Jahre überblicken, können sich an eine derart komplexe Krise, die eigentlich zwei sind, eine der Gesundheit und eine der Wirtschaft, nicht erinnern. In der Finanzkrise reichte es, Banken zu retten, um einen Flächenbrand in der Realwirtschaft zu verhindern. Jetzt gilt es, einen viele Bereiche umfassenden Maßnahmenmix zur richtigen Zeit zu veranlassen. Und, viel schwieriger noch, ein ganzes Land davon zu überzeugen, Verzicht zu üben.

Das ist der Regierung gelungen, und dafür gebührt ihr Anerkennung. Die oft gescholtene Kommunikationsweise des Bundeskanzlers mit den gebetsmühlenartig wiederholten Botschaften hat sich in der Krise bewährt, Abstandhalten und Maskentragen sind durchgedrungen. Die Grünen, die vor 100 Tagen erstmals seit ihrem Bestehen Ministerämter übernahmen, haben den Regierungshärtetest bestanden.

So richtig die Krisenmaßnahmen sein mögen, das mit ihnen verbundene Regime mutet dennoch gespenstisch an. Auf Schritt und Tritt wird man von Ermahnungen verfolgt: Ordnerdienste und Polizisten, Lautsprecher und Screens allerorten. Ein obrigkeitsstaatlicher Spuk, der so schnell wie möglich wieder weg muss.

Die Regierung wäre auch gut beraten, von Notdekreten wieder zu demokratischer Normalität zurückzufinden. Stoff für offene Debatten gibt es zuhauf: Was ist nun die richtige Wirtschaftspolitik? Wie die Balance finden zwischen Budgetkonsolidierung und Konjunkturstütze? Wie sieht die Zukunft des Tourismus im Fremdenverkehrsland Österreich aus? Welche Lücken hat die Krise in der Digitalisierung offengelegt, zum Beispiel im Lehrbetrieb oder beim Erfassen von Krankenakten? Der Diskussionsrückstau ist enorm, und die zweiten 100 Tage von Türkis-Grün werden mindestens so spannend wie die ersten.

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