Wenn nur mehr das Auswandern übrigbleibt

Führt man Gespräche mit Menschen in der Türkei, stehen die Chancen, vor allem wenn es sich um Jüngere handelt, sehr hoch, dass das Thema Auswandern irgendwann aufpoppt. Weg von der Türkei, irgendwo hin, wo man ein besseres Leben hat, mehr verdient und einem auch mehr Rechte und Freiheiten zustehen, wird dann oft argumentiert. Länder wie Deutschland oder Kanada werden dabei besonders oft genannt - sie gehören auch zu jenen, die auf gezielte Zuwanderung von gut ausgebildeten Fachkräften setzen.

Und wer selbst nicht vom Auswandern träumt oder es schon plant, der kennt zumindest Menschen im Familien- und Freundeskreis, die es tun. "Im Kindergarten meiner Tochter feiern wir alle paar Wochen den Abschied eines Kindes. Eine Familie ist in die Schweiz gegangen, eine andere in die Niederlande", so eine Istanbulerin, die nicht namentlich genannt werden möchte, im KURIER-Gespräch.
Die "Abwanderung der Gehirne"
Während die Türkei auch viel Zuwanderung verzeichnet, vor allen aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan, ist in den letzten Jahren auch eine gesteigerte Abwanderung aus dem Land zu beobachten. 84.863 türkische Staatsbürger verließen im Jahr 2019 das Land. Die meisten davon entfielen auf die Altersgruppe zwischen 25 und 29 Jahren. Aktuellere Zahlen gibt es nicht, da das türkische Statistik-Institut seither keine mehr bekannt gegeben hat.
Dennoch ist vom Begriff „beyin göcu“ in der Bevölkerung und den Medien immer wieder zu hören. Der Begriff, der auf Deutsch etwa „Abwanderung der Gehirne bzw. Köpfe“ bedeutet, ist im Grunde kein neuer. Gemeint ist damit, dass gut ausgebildete Menschen das Land verlassen, wodurch nicht nur sie als Fachkraft fehlen, sondern auch die Ressourcen, die das Land sozusagen in ihre Ausbildung investiert hat. Das gab es in einem gewissen Ausmaß schon immer.
Drei Viertel der 18- bis 25-Jährigen würden die Türkei gern verlassen
Doch in den letzten Jahren scheint es einen merklichen Anstieg zu geben – zumindest legen gewisse Entwicklungen das nahe. So verzeichnete die Türkische Ärztekammer einen Höhepunkt für die Antragstellung von Arbeitszeugnissen; diese werden benötigt, wenn man sich im Ausland bewerben will. Waren es im Jahr 2012 noch insgesamt 59 Ärzte, die die Türkei verließen, taten es im August dieses Jahres bereits 402. Die Ärztekammer prognostizierte, dass sich diese Zahl mit Ende 2022 auf wohl circa 3.000 erhöhen werde.
Vom Abwandern der Fachkräfte sind ebenfalls Branchen wie die IT, das Ingenieurwesen oder das Bankenwesen stark betroffen.
Schlechte wirtschaftliche und politische Lage
Ein Großteil der jungen Menschen in der Türkei wünscht sich einer Umfrage zufolge eine Zukunft im Ausland. Fast drei Viertel der 18- bis 25-Jährigen würden die Türkei gern verlassen. Ein knappes Drittel würde am liebsten in europäischen Ländern wohnen, weil sie dort unter anderem bessere Arbeitsbedingungen, mehr Freiheiten und Menschenrechte sowie einen höheren Lebensstandard erwarten. Diese Werte gehen aus einer von der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlichten repräsentativen Umfrage Anfang hervor. Als Grund dafür werden vor allem die repressive politische und schlechte wirtschaftliche Lage der Türkei genannt.
Dem versuchen viele auch auf anderen Wegen zu entkommen. So gab es laut einem Artikel der Deutschen Welle einen Rekordwert bei Asylanträgen von türkischen Staatsbürgern in Deutschland. Mit 20.808 an der Zahl landete die Türkei bei den Ländern, aus welchen Menschen am häufigsten in Deutschland Asyl ansuchten, nach Syrien und Afghanistan im Jahr 2022 auf dem dritten Platz.
Das Abwandern aus der Türkei beschäftigt die Politik immer wieder. Erst vor wenigen Tagen äußerste sich auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei einer Verleihung für Wissenschaftspreise zu dem Thema. "Gewisse Gruppen wollen die Entwicklung in ein falsches Licht stellen. Ich habe absolut nichts dagegen, dass sich junge Menschen im Ausland weiterbilden und Erfahrungen sammeln. Ganz im Gegenteil: Das gilt es zu unterstützen", so Erdoğan.
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