Der Mann, den Erdoğan als Bedrohung sieht

Bereits Stunden vor der Urteilsverkündung war klar, dass es vor dem Istanbuler Rathaus zu einer großen Versammlung kommen würde. „Egal, ob wir unseren Widerstand oder unsere Freude zeigen. Ich erwarte alle heute dort“, rief der Bürgermeister Ekrem Imamoğlu zuvor über soziale Medien auf.
Als Imamoğlu, mittlerweile zu mehr als zwei Jahren Haft und einem Verbot zur Ausübung politischer Ämter verurteilt, am Nachmittag des 14. Dezember auf die Menschenmengen traf, war der Widerstandswille vieler Istanbuler gegen das Regime von Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu spüren.
Aller Anfang in Istanbul
„Ich habe so etwas nicht erwartet. Aber ich bin auch nicht überrascht“, sagt die Istanbulerin Gizem M. über das Urteil. Die Regierung versuche Herausforderer, gegen die sie nicht ankommt, mit unlauteren Mitteln aus dem Weg zu räumen. Schließlich rücken die Wahlen immer näher, sagt sie.
„Ich glaube, Erdoğan sieht Imamoğlu als starken Gegenkandidaten und wohl auch als Bedrohung an“, findet auch Ferhat Z., der als Lieferant in der Stadt am Bosporus arbeitet.
Imamoğlu ist seit seiner Wahl zu Istanbuls Bürgermeister ein Hoffnungsträger der türkischen Opposition – und ein Dorn im Auge Erdoğans. Der Präsident begann seine Karriere einst in der gleichen Position und weiß daher: Ankara mag zwar die Hauptstadt sein, aber in Istanbuls schlägt das Herz der Türkei.
Als Imamoğlu als Kandidat der CHP (Republikanische Volkspartei) die Bürgermeisterwahl 2019 für sich entschied, erklärte der Wahlausschuss diese prompt für ungültig. Es musste erneut gewählt werden. Imamoğlu gewann beim zweiten Mal sogar mit noch mehr Stimmen.
In Erdoğans AKP scheint man das bisher noch immer nicht ganz verkraftet zu haben. Imamoğlus Hafturteil geht auch auf eine Aussage in dieser Zeit zurück. Er soll den Wahlausschuss als idiotisch bezeichnet und ihn damit beleidigt haben.
Mehmet T., der für eine Gewerkschaft in Istanbul tätig ist, verweist auf ein ähnliches Vorgehen der Regierung gegenüber pro-kurdischen Politikern: „Das ist die Rechnung dafür, dass viele in Anatolien nur zugeschaut haben. Druck gibt es im ganzen Land, nicht nur in Istanbul.“ Der ehemalige Vorsitzende der pro-kurdischen HDP sitzt etwa seit 2016 in Untersuchungshaft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bezeichnete ihn 2020 als politischen Gefangenen.
Hinweis auf Kandidatur
Imamoğlu jedenfalls will es nicht so weit kommen lassen. Der CHP-Politiker wird in Berufung gehen. Die große Frage bleibt: Wird er im nächsten Jahr als Präsidentschaftskandidat gegen Erdoğans antreten können?
Offiziell hat das „Wahlbündnis der Nation“, bestehend aus der CHP und der nationalkonservativen „Iyi Parti“, bisher keinen Kandidaten aufgestellt. Imamoğlu gilt aber als Favorit vieler. Seit Monaten führt er in Umfragen als beliebtester türkischer Politiker.
Auch CHP-Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu wäre ein möglicher Kandidat. Doch dieser ist bei Weitem nicht so beliebt wie Imamoğlu. Außerdem, so sieht es zumindest Mehmet T., kommt Kılıçdaroğlu sein alevitischer Glauben in die Queere.
Bisher hat sich der Istanbuler Bürgermeister jedenfalls nie offiziell zu einer Kandidatur geäußert. Das änderte sich bei dem aktuellen Parteitreffen der CHP. Dort ließ er folgende Sportmetapher sprechen: „Ich bin definitiv im Team gegen Präsident Erdoğan. Aber das sind viele. Ob ich letztendlich spielen werde oder nicht, entscheidet der Trainer. Aber es gibt definitiv die Wahrscheinlichkeit, dass ich mitspielen werde.“
Kommentare