"Die Täter, die wissen, dass das System Femizide legitimiert, versuchen ihre Morde zu vertuschen. Es wird kein wirksames Ermittlungs- und Strafverfolgungsverfahren bezüglich der Morde an Frauen durchgeführt, sie werden einfach als verdächtige Todesfälle zurückgelassen", heißt es im Bericht für das Jahr 2021.
Was bei beiden Zählungen auffällt, ist jedenfalls die allgemein steigende Tendenz. Im Jahr 2008 zählten beide Initiativen noch zweistellige Zahlen von Femiziden.
"Das kann ganz allgemein als eine extreme Zuspitzung von geschlechtsspezifischer Gewalt verstanden werden. Diese hat ihren Ursprung in gesellschaftlichen Ungleichheiten zwischen Geschlechtern. Daher kann auch die Zunahme als Ausdruck und auch als Ergebnis der wachsenden Ungleichheit zwischen Männern und Frauen verstanden werden", erklärt Ayşe Dursun. Die Politikwissenschaftlerin von der Universität Wien hat die Türkei und Gleichstellungspolitiken unter anderem als Forschungsschwerpunkte.
Religiös instrumentalisierte Diskurse
Seit 2002 ist in der Türkei die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) an der Macht. Die Partei gilt als konservativ-islamistisch. Und auch wenn der Frauenanteil in der Politik durch sie höher wurde, ist das vermittelte Frauenbild deutlich konservativer geworden.
Allen voran Staatspräsident und Parteiführer Recep Tayyip Erdogan ist ein Verfechter der Ungleichheit, da "Frauen die Rolle als Mutter zukomme", wie er schon öfter bei öffentlichen Auftritten erklärte. "Religiös instrumentalisierte Diskurse, die von einer vermeintlichen Mütterlichkeit von Frauen ausgehen und diese als gottgegeben verstehen, werden ganz systematisch von der Regierung eingesetzt, um eben eine gesellschaftliche Akzeptanz für die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen zu erzeugen", sagt Dursun.
Auch der Austritt aus der Istanbuler Konvention, ein völkerrechtliches Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, sorgte für große Kritik. Per Dekret hatte die Regierung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den Austritt beschlossen. Dieser sei rechtswidrig, sagen Frauenrechtlerinnen und Juristen bis heute.
Aktuell berichtet auch KCDP über eine Schließungsklage. Der Plattform wird "unter dem Deckmantel von Frauenrechten das Auseinanderreißen des Familienkonzepts" vorgeworfen. Die Plattform agiere gegen gesetzliche und moralische Werte. Die Klage wurde nach einer Beschwerde der Istanbuler Provinzdirektion von der Staatsanwaltschaft eröffnet.
Männliche Gegenreaktion
"Es ist dennoch wichtig zu betonen, dass Frauen nicht als passive Opfer männlicher Gewalt verstanden werden dürfen. Sie wehren sich immer aktiv gegen diese Art von Gewalt. Sie lassen sich zum Beispiel scheiden, ziehen in Frauenhäuser, gehen vor Gericht. Oder sie organisieren sich politisch", erklärt Dursun. Die wachsende Gewalt an Frauen könne laut der Forscherin aber auch als eine männliche Gegenreaktion auf die Entschlossenheit von Frauen verstanden werden, ihr Leben zu verteidigen. Je mehr sie sich wehren, desto brutaler werden sie unterdrückt.
Erschwert wird dieser Kampf aber durch rechtliche Rahmenbedingungen, beziehungsweise ihre Exekution. "Feministinnen sind sich eigentlich im Großen und Ganzen darüber einig, dass die bestehenden Gesetze ausreichend sein könnten. Jedoch werden Strafmilderungen oft für die Täter angewendet", sagt Dursun. Männer erhalten laut der Expertin aufgrund einer angenommenen "Provokation" seitens des Opfers mildere Strafen. Frauen, die aus Notwehr Männer töten, erhalten wiederum hohe Strafen und keinen Freispruch.
Höhere Strafen sieht sie nicht als Lösung. "Es braucht vielmehr Gewaltprävention als polizeiliche Mittel, die nachträglich — also, nachdem eine Straftat bereits begangen wurde — eingesetzt werden. Und Gewaltprävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die strukturelle Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen in allen Lebensbereichen abbauen soll. So zum Beispiel durch eine egalitäre Arbeitsteilung im Haushalt, durch eine gleichberechtigte Repräsentation von Frauen in der Politik und durch gleichen Lohn für gleiche Arbeit bzw. durch die Verbesserung der Löhne in Sektoren, in denen Frauen überrepräsentiert sind, wie etwa in der Pflege", so Dursun.
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