Depressionen: Lernen, es mit sich gut auszuhalten
Erfolgreich im Job, keine finanziellen Sorgen, viele Bewunderer - und trotzdem kam der Hamburger Journalist Holger Senzel mit seinem Leben nicht mehr zurecht und schlitterte in eine schwere Depression samt nervlichem Zusammenbruch. Nachdem ihn zahllose Psychotherapien nicht weiterbrachten, drehte er den Spieß um: Er verpasste sich selbst einen "Arschtritt" und verarbeitete seine Erfahrungen in einem Buch, das soeben erschienen ist. Im KURIER-Gespräch erzählt er, wie ihm der Weg zurück in ein zufriedenes Leben gelang.
KURIER: Sich in den Allerwertesten treten - das klingt negativ. Warum sind Sie so hart zu sich selbst? Holger Senzel: Mein Ansatz ist im Grunde ein freundlicher: Ich nehme mir kleine Dinge vor, weiß aber auch, dass ich scheitern kann. Dann fange ich wieder von vorne an. Es ging mir darum, dabei zu bleiben und nicht wegen eines Ausreißers alles hinzuschmeißen. Deshalb habe ich mein "Unternehmen Arschtritt", mein Ein-Monats-Programm entwickelt. Habe Kaffee, Alkohol, Zigaretten und Genussgüter wie Fernsehen gestrichen und mir im Kopf eine Art Drill-Instruktor installiert, der in Konfrontation mit meinem inneren Schweinehund stand.Wie sind Sie zu dieser Einstellung gekommen? Ich habe meine Probleme fast zehn Jahre in Therapien behandelt und immer nur nach innen geschaut: Wo sind meine Bedürfnisse? Ich muss auch meine negativen Seiten annehmen und meinen Gefühlen nah sein usw. Ich habe dann beschlossen, all diese Probleme, mit denen ich mich in der Therapie beschäftigt habe, einfach einmal zu vergessen und mir stattdessen kleine Aufgaben und damit kleine Erfolgserlebnisse zu schaffen. Denn ich musste ja irgendwoher wieder die Kraft bekommen, um mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Das hat mir eigentlich immer in meinen Therapien gefehlt: eine praktische Hilfe für den Alltag. Da haben wir zwar über meine Seele geredet, aber der praktische Lebenscoach, der hat mir gefehlt. Ich hab' mich dann an meine Oma erinnert, die einfach immer das Notwendige gemacht hat. Als sie etwa vom Tod eines ihrer Enkel erfuhr, hat sie noch das Geschirr fertig gespült, bevor sie etwas anderes tat. Ich wollte mit kleinen Schritten schaffen, ein guter Typ zu sein, um meine eigene Gegenwart nicht nur auszuhalten, sondern auch zu genießen.Aber gerade Depressiven fällt es schwer, sich zu Aktivitäten aufzuraffen. Und körperliche Betätigung gehört doch auch in stationären Therapien zum Standardprogramm. Nach meinem Zusammenbruch hätte ich sicher auch nicht die Kraft für mein Programm gehabt. In einer tiefen Depression kann man wirklich nichts mehr angehen, das ist eine absolut lähmende Tatenlosigkeit. Aber so weit muss es erst gar nicht kommen. Therapien sind für viele eine große Hilfe. Nur bei mir haben sie halt nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Das ist vielleicht auch eine Typfrage.Sie schreiben in Ihrem Buch, Sie wollten mit Ihrer Strategie "ein solides Haus für meine Seele bauen". Etwas bauen und tatkräftig angehen - das klingt nach einem männlichen Lösungszugang. Ehrlich gestanden, ich habe mich das auch gefragt, bin aber zu keiner Antwort gekommen. Bis jetzt habe ich allerdings auf mein Buch nur Reaktionen von Frauen bekommen. Vielleicht deshalb, weil Frauen eher dazu stehen, wenn es ihnen schlecht geht.Was hat Ihnen Ihr Arschtritt nun tatsächlich gebracht? Hat sich Ihr Leben dadurch verändert? Ja. Ich habe gelernt, es mit mir selber gut auszuhalten, einfach Holger Senzel zu sein. Und es fühlt sich toll an, stark zu sein. Probleme - ich spreche aber lieber von Aufgaben - gehe ich heute auch viel pragmatischer an als früher. Ich bin glücklicher, seit ich mich nicht mehr um mich selbst drehe. Ich habe sehr viel Mist gebaut in meinem Leben, etwa in meinen Beziehungen. Viele habe ich nicht aus Liebe geführt, sondern um nicht allein zu sein. Und jetzt bin ich Heiratsmuffel seit drei Jahren glücklich verheiratet und danach auch noch Vater geworden.Keine Angst vor einem Rückfall? Niemand ist gefeit vor Schwermut oder neuen Brüchen im Leben. Aber ich habe jetzt ein Rezept dafür, das ist wie ein Sicherheitsanker. Auch dadurch habe ich heute das Gefühl, mein Leben im Griff zu haben.
Depression ist kein Einzelschicksal
"In Österreich leiden rund neun Prozent der Bevölkerung an Depressionen", erklärte Univ.-Prof. Siegfried Kasper, MedUni Wien, im März anlässlich des Europäischen Psychiatriekongresses in Wien. "Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens mindestens ein Mal daran zu erkranken, liegt zwischen zwölf und 20 Prozent." Insgesamt nahmen im Jahr 2009 rund 900.000 Menschen wegen psychischer Beschwerden Leistungen der Krankenversicherung in Anspruch. Der deutsche Journalist Holger Senzel, 52, machte mit Anfang 30 die erste Therapie gegen Depressionen. Heute hat er erstmals das Gefühl, ein erfülltes Leben zu leben.Buchtipp Holger Senzel, "Arschtritt - Mein Weg aus der Depression zurück ins Leben" Südwest-Verlag, 17,50 Euro.
-
Hauptartikel
-
Reportage
-
Hintergrund
Kommentare