Wie wir wurden, was wir sind
Er war unsichtbar geblieben, viele Jahrzehnte lang. Die Mutter hatte oft von ihm gesprochen, die Tochter – damals um die 17 – war nicht interessiert, hörte nicht hin. Und sie stellte keine Fragen. Wozu auch? Alte Geschichten, weit weg. All das, so die Annahme, hatte nichts mit dem zu tun, was jetzt ist. Jetzt: Party. Freunde. Spaß.
Die Jahre vergingen – Party, und Spaß wurden rarer, die Probleme hingegen häuften sich. Leben halt. Damit verbunden: Heirat, Kinderkriegen, Scheidung, Trennung, Tränen, Brüche, gute Momente, aber auch verdammt viele schlechte.
Diffuse Trauer und Wut
Eines Tages: die Frage nach dem Warum. Warum all diese Brüche, warum so viele Hürden und Schwieriges? Weshalb die latente Depression, eine diffuse Trauer und Wut – sowie das permanente Gefühl, nicht ganz bei sich zu sein, nicht zugehörig, wurzellos? "Weiß ich, wer ich bin? Und – falls ja – wie viele bin ich, womöglich?", fragte sich die Frau, die mittlerweile 42 Jahre alt geworden war. Diese Fragen führten sie schließlich in die Praxis eines systemischen Familientherapeuten. Die Spurensuche nach den eigenen Wurzeln hatte begonnen.
Familienmitgliedern nachspüren
Und da war er plötzlich, nebst anderen Familienmitgliedern : der Bruder der Mutter und mit ihm das Schicksal jenes jungen Mannes, dessen ernstes Gesicht die Frau bisher nur von alten, vergilbten Schwarz-Weiß-Bildern kannte. Mit nur 19 war er im Zweiten Weltkrieg gefallen – wie sich später herausstellte durch einen Granatsplitter im Kopf. Kaum älter als seine Schwester, die Mutter unserer Protagonistin. Mit dem Verlust des Bruders war für die damals junge Frau ein Stück ihrer selbst verloren gegangen, so tief war die Beziehung zu ihm gewesen. Das zeigten Fotos, auf der sie aussah, als würde sie als Witwe ihrem eigenen Mann nachweinen. So viele Jahre später war klar geworden: Der Tod des 19-Jährigen hatte ein Loch ins Herz seiner Schwester gerissen, das nicht mehr zu flicken war.
Längst war die Mutter gestorben, die Chance, nachzufragen und mehr über ihren Schmerz zu erfahren, für immer vertan. Doch es gab Briefe und Fotos als Puzzleteile einer Geschichte. Der Nebel lichtete sich, vieles fügte sich. Neben vielen anderen Lebensereignissen vor, im und nach dem Krieg war dies der Grund für die stets vorhandene Trauer, Verzweiflung und Lähmung der Mutter gewesen. So manches davon hatte sie, ohne viele Worte, an die eigene Tochter weitergegeben. Im Rahmen dieser Spurensuche sollte die Frau noch viele weitere Lebensbruchstücke entdecken.
Ein Stück Identität
Sich mit seiner Herkunftsfamilie zu befassen lohnt sich, weil in jeder Familie unendliche viele Geschichten stecken. Jede Geschichte ist, mehr oder weniger, auch stets ein Teil von einem selbst. Ein Stück Identität. Es sind Kräfte, die wirken – über Generationen hinweg, oft als Last, manchmal als unbewusster Auftrag, den es der Loyalität und der Liebe wegen zu erfüllen gilt.
Familien-Stammbaum
Das Zeichnen eines Genogramms kann ein erster Schritt sein. Die möglichst komplette Darstellung des Familienstammbaums väterlicher- und mütterlicherseits – über mindestens drei Generationen. Eine Art Skulptur und Bild dessen, was in der Familie verbindend wirkt, trennt – oder aber fehlt.
Wie auch immer sich diese Geschichte zeigt und die Geschichten darstellen mögen: Darin ankert das Ich, hier wird sichtbar, woher ein Mensch kommt und mit welchen Familienschicksalen er womöglich verbunden ist. Eine Entdeckungsreise, wie Baring sagt, "wo wir Bekanntem und Verborgenem nachspüren". Mit allen Details – von Charaktermerkmalen, Beziehungsmustern Familienlegenden, Tabuthemen bis hin zu historischen und juristischen Fakten.
Was ist eine Familie?
Baring zitiert gerne aus einem Brief, den Heinrich Bockelmann, der Großvater von Udo Jürgens, nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs an seine Nachkommen schrieb: "Denn eine Familie ist wie ein Baum, im Erdreich verankert durch ein Geflecht von starken und schwachen Wurzeln, die sich in seinem Stamm vereinen und in den dem Himmel zugewandten, nach oben strebenden Ästen und Zweigen ihr Spiegelbild finden. Jeder ein Teil des Ganzen, aber nur gemeinsam das Wunderwerk, das Wind und Wetter und auch der Zeit trotzt. Nur wer die Stärken und die Schwächen des Ganzen kennt, wird kraftvoll in seiner Zeit stehen, unantastbar wie die Eiche im Sturm, ..."
Rückblick
Fragen kann jeder Mensch natürlich auch sich selbst. Biografiearbeit gilt als spannende Möglichkeit, sich ein Stück seiner Lebensgeschichte anzueignen und seine Identität zu stärken. Im Mittelpunkt steht dabei der Satz: "Wie wurde ich, was ich bin?" Biografiearbeit ermöglicht Selbstreflexion, indem – meist professionell geleitet – mit und an der eigenen Biografie gearbeitet wird. Denn was jeden Menschen ausmacht, sind seine Erinnerungen, seine Geschichten – als Lehrstück für einen selbst, und auch für nachfolgende Generationen. "Der Blick auf die Vergangenheit dient dazu, Gegenwart zu verstehen und Zukunft zu gestalten", sagt Renate Brüser, Expertin für Biografiearbeit (siehe rechts). Das Erlebte wird vergegenwärtigt – und kann, im Lichte des Rückblicks, einen neuen Stellenwert bekommen oder anders bewertet werden.
"Erinnerung ist eine Form der Begegnung", schrieb der libanesisch-amerikanische Philosoph Khalil Gibran. Wichtiger Punkt: Wenn es noch die Gelegenheit gibt, den lebenden "Alten" in der eigenen Familie zuzuhören, sollte man sie nützen. Weil diese Menschen mit ihrer Geschichte auch ein Stück von der Geschichte der Fragenden erzählen.
„Einem Menschen zu begegnen, heißt von einem Rätsel wachgehalten zu werden“, zitiert Renate Brüser den französisch-italienischen Philosophen Emmanuel Levina. 2010 gründete sie das Österreichische Institut für Biografiearbeit, wo sie vom Biografischen Schreiben über Biografisches Coaching auch eigene Lehrgänge anbietet.
Renate Brüser: Was einen Menschen ausmacht, sind seine Erinnerungen. Der Mensch besteht aus Geschichten. Das Erzählen und Erinnern ist daher eine Selbstbestätigung für das eigene Leben, es stärkt die Identitätsfindung und bestätigt einen Lebensweg. Wichtig dabei ist, dass man erkennen kann, wie man der Mensch geworden ist, der man ist. Das führt zum Verstehen der eigenen Lebensgeschichte, zum Annehmen und Akzeptieren – auch von Schwierigkeiten. Biografiearbeit ist keine Therapie. Und sie kann Spaß machen – etwa, wenn man sich gemeinsam an etwas erinnert. An die Musik, Mode, das Essen, die Bücher oder TV-Sendungen dieser Zeit. Das erzeugt ein Wir-Gefühl, man fühlt sich aufgehoben.
Sieht man im Rückblick vieles nicht völlig anders?
Bei der Biografiearbeit kann ein Mensch seine Lebensgeschichte reflektieren. Dabei kommt es oft zu Standpunktänderungen, Dinge werden anders gesehen und bewertet – aus einer veränderten Perspektive. Alles, was ein Mensch erzählt, ist in Ordnung. Wir fragen nicht nach und auch nicht nach dem Warum. Wir zweifeln nichts an.
Wie wichtig ist Biografiearbeit in der Arbeit mit Dementen?
Es ist enorm wichtig, dass die Pflegenden oder die Angehörigen viel über den Dementen wissen. Dadurch können Sie besser auf ihn eingehen. Wenn man etwa weiß, dass eine Frau Floristin war, kann man sie fragen, ob sie immer die Blumen gießen mag. So nimmt sich der Mensch nicht nur als pflegebedürftig wahr.
An Ihrem Institut werden Hörbiografien angeboten, was ist das?
Bei „Leben hören“ können Menschen ihre Lebensgeschichte erzählen – es wird von Profis in einen passenden akustischen Rahmen gebracht und auf CD gebrannt. Wir haben etwa die Hörbiografie 94-jährigen Mannes gemacht, die zwei Tage nach seinem Tod mit der Post angekommen ist. Für die Familie war es dann etwas sehr Schönes, seiner Stimme und seinen Erzählungen lauschen zu können.
Mehr Info: www.biografiearbeit.org
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