Wie 1968 die Gesellschaft veränderte
An die „Uni-Ferkelei“ vom 7. Juni 1968 im Hörsaal 1 des Neuen Institutsgebäudes kann sich Günter Brus auch als alter Mann noch detailgetreu erinnern: „Ich habe mich ausgezogen, bis auf die Socken, die merkwürdigerweise rot waren. In der Folge habe ich uriniert, es also rinnen lassen. Und ich habe versucht zu erbrechen und habe den Finger hier reingesteckt (zeigt auf den Mund, Anm.). Dann habe ich mich umgedreht – mit dem Ar* zum Publikum habe ich geschi*en und dabei die österreichische Bundeshymne gesungen“, erzählt er in einer 3Sat-Sendung.
Die Aktion, getragen von Brus, Otto Mühl, Peter Weibel und Oswald Wiener, ist älteren Semestern bis heute gut in Erinnerung – als Sinnbild der ’68er-Revolte in Wien. Wobei Revolte für Österreich übertrieben ist – der Historiker Fritz Keller nennt es lieber ein „Mailüfterl“.
Ein tiefes Luftholen
Denn: „Wenn man wollte, konnte man studieren, ohne von den Protesten und Provokationen viel mitzubekommen“, erinnert sich Heidi Schrodt. Die Pädagogin und Bildungsexpertin hat 1968 mit dem Studium der Anglistik, Germanistik und Philosophie begonnen. Für Schrodt, die zuvor acht Jahre ein katholisches Internat besucht hatte, war der Wechsel an die Uni dennoch eine Art Befreiungsschlag, „ein tiefes Luftholen“. Und damit war sie wohl nicht alleine: Fritz Keller nennt die Zeit vor ’68 in seinem Buch „ Wien, Mai 1968. Eine heiße Viertelstunde“ die „Zeit der provinziellen Verzopftheit“.
Wie provinziell zum Beispiel das Familienbild war, zeigt ein Blick in die damaligen Gesetzbücher: Wer Sex mit seiner Verlobten hatte, die er später nicht geheiratet hat, konnte dafür bis zu drei Monate ins Gefängnis kommen. Zudem musste er eine Entschädigung zahlen. „Entehrung unter der Zusage der Ehe“ galt als Offizialdelikt.
Mann als Oberhaupt
Ansonsten war es aus heutiger Sicht für Frauen eine wenig erquickliche Zeit, besonders für verheiratete. Denn mit der Eheschließung verlor die Frau viele Rechte – der Mann war das Oberhaupt, sie hatte ihm zu gehorchen. Kochen, putzen und ein wohliges Zuhause bereiten gehörte genauso zu ihren Pflichten wie die, ihrem Mann Nachwuchs zu schenken.
Auch deshalb waren Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe gestellt. Bis zu fünf Jahre Haft standen darauf. Diese Miefigkeit muss man sich vergegenwärtigen, wenn man 1968 verstehen will.
Plötzlich wurde von den Jungen alles in Frage gestellt: Geschlechterrollen, familiäre Beziehungen, Erziehung. Dafür brauchte es den Radikalismus der 68er nur teilweise. Mit Sex wurde längst Geld gemacht, und Kult um Popstars ist keine Erfindung dieser Generation. Dass das Abtreibungsverbot liberalisiert werden sollte, war nicht nur unter linken Frauen seit 1918 eine ausgemachte Sache. „Die aber an den politischen Machtverhältnissen und der katholischen Kirche immer wieder scheiterte“, sagt Genderforscherin Maria Mesner. „Doch jetzt waren die Frauen – gebildet und selbstbewusster – nicht mehr bereit, sich den Zufälligkeiten ihres Lebens auszuliefern – oder wohlwollenden Ärzten.“
Die Feministinnen forderten damals, dass der Paragraf 144 (Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs) ersatzlos gestrichen werden muss. Allerdings: Bei ihrem Kampf für Gleichberechtigung konnten sie nicht auf männliche Unterstützung bauen. „Frauen waren diejenigen, die in den linken Gruppen den Kaffee kochten“, erinnert sich Heidi Schrodt. Die Revolutionäre waren nämlich ausgemachte Machos.
Dennoch war es eine Zeit des Aufbruchs: „Das fing mit der Kleidung an, die von den Hippies inspiriert war. Ich trug Perücken und wallende Röcke“, weiß Schrodt heute noch. Maßgebend waren für die Anglistin die USA und Großbritannien: „Die Rockkonzerte, die sexuelle Befreiung, Demos mit den bekannten Spruchbändern.“ Der bekannteste Satz: „Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren.“
Bärte und lange Haare
Manches entsprach durchaus dem Klischee: „Einmal saß ich in einer Philosophievorlesung, in der heftig debattiert wurde und die Studenten durch ihr Äußeres ihre politische Einstellung zeigten: sie trugen Bärte, hatten lange Haare und rauchten ununterbrochen“, so die Zeitzeugin. Doch die Regel waren solche Seminare nicht.
Eine Veränderung wurde allerdings offensichtlich: Die Burschenschaften dominierten die Universität nicht mehr. Das war Anfang der 1960er noch anders gewesen, wie
Fritz Keller schreibt: „Nur die aufmüpfigsten unter den wenigen Mitgliedern des Bundes Sozialistischer Akademiker bekannten sich zuvor auf Universitätsboden offen zur Sozialdemokratie.“ Wer nicht konform war, bekam keine Lehraufträge: darunter berühmte Namen wie der Mathematiker Kurt Gödel, der Maler Oskar Kokoschka oder die Soziologin Marie Jahoda.
Studenten bestimmen mit
Die Alleinregierung der ÖVP unter Bundeskanzler Josef Klaus und seine konservative Politik lösten nur wenige Proteste der ’68er aus. Auf universitärer Ebene konnten die Studenten erst nach 1970 einige Erfolge erzielen, wie der Zeithistoriker Oliver Rathkolb von der Uni Wien erläutert. So haben sie die Drittelparität (je ein Drittel Studierende, Assistenten und Professoren in den Universitätsgremien) erstritten. Diese Form der Mitbestimmung in der Selbstverwaltung der Universitäten wurde nicht nur von sozialistischen Studenten gefordert und auch realisiert. Insgesamt, so Rathkolb, „waren die Veränderungsprozesse in Österreich zwar langsamer, dafür aber tiefergehend als das in anderen Ländern der Fall war.“
Abtreibungsparagraf 144
Reformen des Familienrechts setzte erst Christian Broda, Justizminister unter Bundeskanzler Bruno Kreisky, um – etwa die Abschaffung des Abtreibungsparagrafen 144. „Kreisky war von dieser Initiative nicht begeistert, weil er den Ausgleich zwischen Kirche und Sozialdemokratie nicht gefährden wollte. Der damalige Kardinal König hat die Aufhebung allerdings nicht mit letzter Vehemenz bekämpft und eine Totalkonfrontation wie in der 1. Republik verhindert“, sagt Rathkolb. Das Recht auf Abtreibung war schon nach 1918 eine Forderung der Sozialdemokratie.
In die Ära Broda fiel auch die juristische Gleichstellung von Mann und Frau, was sich in vielen Bereichen bis heute auswirkt. „An den Universitäten gibt es mittlerweile mehr Studentinnen als Studenten. Auf Ebene der Ordinarien sind Männer aber nach wie vor überrepräsentiert“, sagt Rathkolb.
Die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit ist bis heute nicht umgesetzt. „Das gilt besonders für die schlecht bezahlten Jobs.“ In diesem Punkt war Skandinavien erfolgreicher. „Genauso wie die Einführung der Gesamtschule an der nötigen 2/3-Mehrheit im Nationalrat scheiterte“, bedauert Rathkolb.
Demokratisierung
Dennoch folgte in den Schulen eine Zeit des Aufbruchs, erinnert sich Heidi Schrodt, die 1974 zu unterrichten begann: „Kritisches Denken zu fördern war vielen, vor allem jungen Lehrerkräften wichtig, auch wenn sie einer konservativen Lehrervereinigung angehörten. Texte wurden auf gesellschaftliche Relevanz hin gelesen; Lehrinhalte änderten sich: der Sexualunterricht wurde Teil der Biologie.“ Und Schüler wurden selbstbewusster: „Sie demonstrierten gegen ihren Direktor, was früher undenkbar war.“ Rechtlich hat die Änderung des Schulunterrichtsgesetzes im Jahr 1974 die Schüler vor der Willkür der Lehrenden geschützt.
All das, so resümiert Rathkolb, war aber mehr dem gesellschaftlichen Reformbedarf als den Studentenprotesten zu verdanken: „Kreisky war kein ’68er, sondern hat ihnen den Wind aus den Segeln genommen, indem er kontrollierte Veränderungen zuließ, anstatt eine Revolution anzuzetteln.“ Den ’68ern die Schuld an den derzeitigen Krisen zu geben, wie das viele Konservative derzeit tun, stimme gerade für Österreich nicht. „Die wenigen Studentenproteste waren keine gesamtgesellschaftliche, sondern eine elitäre Bewegung.“
Kommentare