Warum jeder ein kleiner Egoist sein sollte

Warum jeder ein kleiner Egoist sein sollte
Ich zuerst! Warum Kinder keine Gutmenschen sind und Altruisten mehr Hirnsubstanz haben.

"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, heißt es bereits in Bertold Brechts Dreigroschenoper. Mit dem Spruch spielt er auf die Unterschiede zwischen Arm und Reich an. Denn wer genug Geld und Essen für ein sorgloses Leben hat, predigt gern vom hohen Ross der Moral, wie sich andere zu verhalten haben. Doch ausgerechnet in Zeiten des Wohlstandes scheint es, als würde uns Moral zunehmend abhanden kommen. Oberflächlich betrachtet zumindest.

Selbstbespiegelung

„Warum sind Menschen überhaupt bereit, etwas herzugeben? Ein rationaler Mensch wird immer seinen Gewinn maximieren wollen“, antwortet Entwicklungspsychologin Stefanie Höhl auf meine Frage, warum einige Menschen egoistischer sind als andere. Auch eine Sichtweise, denke ich, und auch an Sätze wie: „Jeder ist sich selbst der Nächste“ und „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“.

Allen Unkenrufen zum Trotz, dass wir alle zu kleinen Ich-AGs verkommen, unsere Solidarität verkümmert und sich in einer selbstbespiegelnden Endlosschleife die Erde nur noch um uns selbst dreht, sehen viele Philosophen, Psychologen und Ökonomen unser Verhalten auf lange Sicht auf der altruistischen Seite. Hat der gute alte Homo oeconomicus, der rationale Agent und Nutzenmaximierer, der nur auf sich achtet, ausgedient?

Warum jeder ein kleiner Egoist sein sollte

Prof. Dirk Helbing, Soziologe am Department of Humanities, Social and Political Sciences, Zürich

Ja, denn geht es nach dem Soziologen Dirk Helbing, ist der Mensch kein Homo oeconomicus, sondern ein Homo socialis. „Wir haben in einer Studie mittels Computersimulation den sozialen Austausch zwischen Einzelpersonen über mehrere Generationen hinweg nachgestellt“, so Helbing.

In der Ausgangslage waren alle Akteure nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Sie können zusammenarbeiten, doch es besteht der Anreiz, dass sie mehr für sich herausholen, wenn sie es nicht tun. Ab und zu werden Menschen mit einer gewissen Freundlichkeit geboren. Die meisten Akteure sind eigentlich kooperationsbereit – solange ihre Nachbarn aber nicht kooperieren, tun sie es auch nicht. Weil sie sich nicht ausnutzen lassen wollen.

Hin und wieder kommt es zur Geburt eines Menschen, der zur bedingungslosen Kooperation bereit ist. Landet dieser inmitten von Egoisten, hat er keine Chance. Er wird nur ausgenutzt und hat keine Nachkommen – die Gesellschaft bleibt egoistisch. „Wird er aber in die Nachbarschaft von Kooperationswilligen geboren, gibt es einen Dominoeffekt. Die Nachbarn fangen an, zusammenzuarbeiten, schalten von egoistisch auf kooperatives Verhalten um. Weil der Altruismus die in ihnen angelegte Vorliebe zur Freundlichkeit anspricht. In der Simulation haben sich die Altruisten durchgesetzt. Und das werden sie sich auch im realen Leben“, ist der Experte überzeugt.

Ich-Bewusstsein

In einem YouTube-Interview geht der Philosoph Richard David Precht noch weiter und meint, wir hätten eine Antriebsfeder zum Guten in uns. „Das Gute ist zwar nichts Absolutes, aber in einer Gesellschaft kann man sich sehr schnell darüber einigen, was gut ist“, meint Precht. Psychologin Stefanie Höhl spricht von intrinsischer Motivation, die zutiefst in uns verwurzelt ist. „Mit etwa eineinhalb Jahren entwickelt das Kind ein Ich-Bewusstsein und schon zu diesem Zeitpunkt ist es auch bereit, anderen zu helfen. Michael Tomasello hat für seine Studie Kinder neben Erwachsenen platziert.

Die Erwachsenen haben einen Gegenstand fallen lassen, den sie in weiterer Folge nicht mehr erreichen konnten. Die meisten Kinder halfen – und zwar ganz ohne dazu aufgefordert zu werden“, weiß die Expertin. Mit dem Teilen verhält es sich da schon anders. „Alles meins“ lautet bis zum Grundschulalter die vorherrschende Devise, erst dann bekommt das Kind ein realistischeres, nicht mehr so überzogenes Selbstbild und ist zunehmend bereit, zugunsten anderer auf etwas zu verzichten. Diese Phasen durchzumachen ist wichtig, um ein „gesunder“ Erwachsener, mit einem „gesunden“ Selbstbewusstsein und einer Portion „gesunden“ Egoismus zu werden.

„Kinder mit sozialen Ängsten können sich hingegen oft gar nicht durchsetzen. Aus ihnen werden meist Erwachsene mit sozialen Unsicherheiten, denen es schwerfällt, ihre Bedürfnisse abzugrenzen und Nein zu sagen“, meint Höhl. Sich zur Wehr setzen, hinterfragen und kein notorischer Ja-Sager sein – schnell gelten solche Verhaltensweisen als egoistisch, obwohl es doch viel eher ein „gut auf sich schauen“ ist. Um mit Oscar Wilde zu sprechen: „Egoismus besteht nicht darin, dass man sein Leben nach seinen Wünschen lebt, sondern darin, dass man von anderen verlangt, dass sie so leben, wie man es wünscht.“

Warum jeder ein kleiner Egoist sein sollte

Stefanie Höhl, Entwicklungspsychologin am Institut für Angewandte Psychologie, Universität Wien

Ellbogen-Einsatz

Doch wann kann man einen Menschen als Egoisten bezeichnen? „Hier sind die Grenzen fließend, eine klare Definition gibt es nicht. Das hat auch viel mit subjektivem Empfinden zu tun“, so die Expertin. Es sind oft die kleinen Dinge, an denen man Egoisten erkennt: Rücksichtslos sorgen sie dafür, dass sie das bekommen, was sie gerade wollen. Dabei ist ihnen egal, ob andere dafür zurückstecken müssen. Vorm Supermarkt schnappen sie einem die Parklücke vor der Nase weg, am Gehsteig fällt es ihnen nicht ein, auch nur einen Millimeter auszuweichen, und in den Öffis machen sie ihren Platz nicht für Menschen frei, die ihn nötiger haben. Schließlich haben sie ja dafür bezahlt.

Motive für egoistisches Verhalten sind, neben einer geringen Frustrationstoleranz, vielfältig. Oft verbergen sich hinter übermäßigem Ellenbogeneinsatz große Minderwertigkeitsgefühle. Um das zu erreichen, was sie meinen erreichen zu müssen, gehen sie rücksichtslos vor. Häufig haben Egoisten auch einfach nur Angst, zu kurz zu kommen. Dabei verlieren sie dann ein gesundes Maß aus den Augen. Dass dafür andere zurückstecken müssen, ist ihnen egal. In vielen Fällen haben Egoisten nie gelernt, sich in andere einzufühlen. Sie haben die Einstellung, dass ihnen alles zusteht. Das Sich-in-andere-Einfühlen ist jedoch auch nach neurowissenschaftlichen Studien eine Eigenschaft, die eng mit einem altruistischen, dem Gegenspieler des egoistischen Verhaltens zusammenspielt.

Egoisten mit weniger Substanz

Der österreich-schweizerische Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr über den Zusammenhang zwischen Hirnanatomie und altruistischem Verhalten, den Homo oeconomicus und „gute“ Menschen.

Setting: Zur Klärung, ob altruistisches Verhalten neurobiologische Ursachen hat, mussten Probanten Geldbeträge zwischen sich selbst und einem anonymen Spielpartner aufteilen. Die Teilnehmer hatten dabei stets die Möglichkeit, auf einen gewissen Betrag  zugunsten der anderen Person   zu verzichten.  Ein solcher Verzicht kann als altruistisches Verhalten gewertet werden, weil man so anderen Menschen auf eigene Kosten hilft. Manche Teilnehmer waren fast nie bereit, auf eigenes Geld für  andere zu verzichten, andere hingegen verhielten sich stark altruistisch. Teilnehmer mit einem größeren Anteil an grauer Hirnsubstanz  in der Region zwischen Scheitel- und Schläfenlappen  zeigten eine stärkere Altruismusneigung. Diese Hirnregion  hängt eng mit der Fähigkeit zusammen, sich in die Lage, Gefühle und Gedanken anderer Menschen hineinzuversetzen.  

Menschen mit mehr Anteil grauer Hirnsubstanz sind altruistischer. Wie kann man das messen?
Ernst Fehr: Man kann das mit der „voxel-basierten Morphometrie“ messen, einer Methode zur Messung des Volumens der grauen Masse im Gehirn. Die graue Masse ist ein Hauptbestandteil, besteht in erster Linie aus den Nervenzellen, Dendriten und Synapsen. Unsere Arbeit zeigte, dass altruistischere Probanden mehr graue Masse in der „temporo-parietal junction“ haben, einem Hirnareal, welches für die neuronale Repräsentation und das Verstehen der Perspektive anderer Menschen wichtig ist.
 

Warum jeder ein kleiner Egoist sein sollte

Prof. Ernst Fehr Department of Economics, Universität Zürich

 

Altruismus und somit auch Egoismus sind also neurobiologisch erklärbar. Heißt das, dass unser Verhalten stark biologisch und weniger durch soziale Prozesse bestimmt wird?
Nein, das heißt es sicher nicht. Es ist auch möglich, dass die sozialen Erfahrungen von Menschen in Interaktionen mit Eltern, Gleichaltrigen und Lehrern die Größe dieses Hirnareals verändern. Neuere Forschungsergebnisse – etwa von Armin Falk von der Universität Bonn – zeigen, dass man Altruismus bei Kindern kultivieren kann.  Tania Singer vom Max-Planck-Institut Leipzig hat gezeigt, dass die Größe der „sozialen“ Hirnareale zunimmt, wenn Probanden lernen, die Perspektive anderer einzunehmen.

Warum verhalten sich manche Menschen egoistischer als andere?
Man muss ganz fundamental zwischen Verhalten und motivationalen Dispositionen unterscheiden. Selbst ein sehr altruistisch motivierter Mensch verhält sich manchmal egoistisch, wenn altruistisches Verhalten zu viel kostet. Wer opfert schon sein Leben für andere? Fast jedes Verhalten ist immer auch von den Kosten des Verhaltens beeinflusst. Individuen mit altruistischen, motivationalen Neigungen sind aber bereit, höhere Kosten einer altruistischen Handlung auf sich zu nehmen.

Als Verhaltensökonom beraten Sie auch Unternehmen. Hat sich der Homo oeconomicus endgültig überholt?
Der Homo oeconomicus ist erstens durch perfekte Rationalität und zweitens durch völligen Eigennutz definiert. Als Referenzmodell wird uns der Homo oeconomicus noch lange erhalten bleiben. Aber viele Menschen – jedoch nicht alle – weichen systematisch von diesem Modell ab und das sollte jeder, welcher die Realität verstehen oder verändern will, berücksichtigen.

Unter welchen Umständen werden  Menschen zu Egoisten?
Sie müssen zwischen egoistischem Verhalten und dem Gewicht, das egoistische Motive in der Gesamtmotivation eines Individuums spielen, unterscheiden. Rollenmodelle und soziale Erfahrungen sind entscheidend für das Gewicht egoistischer Motive. Wenn allerdings die Kosten einer altruistischen Handlung nahe bei Null sind, dann verhalten sich in unseren Kulturen die meisten Menschen altruistisch. Wer gibt  einem Fremden, der nach dem Weg zum Stephansdom fragt, keine Auskunft?

Richard David Precht hat in einem Interview gesagt, dass die Menschen gut sein wollen. Stimmen Sie dem zu?
Der Mensch zeichnet sich durch eigennützige  und altruistische, motivationale Komponenten aus. Die soziale Erfahrung bestimmt das Gewicht der beiden. Menschen wollen daher teilweise – in Abhängigkeit von den Kosten – gut sein,  aber sie wollen vor allem auch glauben, dass sie gut sind. Sie wollen das Selbstbild eines guten Menschen haben.

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