Wange an Wange: Männer im Bussi-Bussi-Dilemma
Früher war alles einfacher. Zum Beispiel das Grüßen.
Wenn heute zwei Menschen aufeinander treffen, ist Verwirrung vorprogrammiert: Handschlag oder Umarmung? Küsschen links, rechts, umgekehrt? Zweimal, dreimal? Oder gar nicht?
Vor wenigen Jahrzehnten in Österreich noch völlig unbekannt, hat sich der Wangenkuss in den vergangenen Jahren als fixes Ritual etabliert: Jeder zweite Österreicher busselt laut einer Umfrage des Linzer Meinungsforschungsinstituts Spectra zur Begrüßung. In der jungen Generation ist „Bussi links, Bussi rechts“ so beliebt, dass eine Vorarlberger Mittelschule 2011 ein Kuss- und Umarmungsverbot erwog.
Auch Österreichs erste Anlaufstelle für gutes Benehmen, Tanzschulbesitzer Thomas Schäfer-Elmayer, bemerkt einen Küsschen-Kult. In den späten 1970er-Jahren kam die französische „Accolade“ – das Berühren der Wangen plus Kuss in die Luft – bei uns in Mode, schätzt der Etikette-Experte. Noch eine Entwicklung beobachtet er: „Zuerst war die Form bei guten Bekannten zwischen Dame und Herr anzutreffen, in den vergangenen Jahren immer öfter auch zwischen Herr und Herr.“
Kurz küsst nicht
Dass der Wangenkuss von Mann zu Mann hierzulande eher irritiert als erfreut, zeigte sich bei einem Treffen zwischen Jean-Claude Juncker und Sebastian Kurz. Der damalige Kommissionspräsident, als Luxemburger Küsschen-affin, empfing den designierten Bundeskanzler mit geschürzten Lippen, bereit zum Dreifachbussi.
Gerade noch rechtzeitig konnte Kurz der ungewollten Kuss-Attacke ausweichen. Das Video vom Begrüßungshoppala wurde zum YouTube-Hit. Er sei jemand, der Männer zur Begrüßung grundsätzlich nicht küsse, sondern die Hand reiche, rechtfertigte sich Kurz später in einem Interview – und sprach damit wohl vielen Landsmännern aus der Seele.
Dabei hat das Mann-zu-Mann-Bussi auf die Wange gerade da Tradition, wo Homosexualität verpönt ist: Im arabischen Raum wird ausschließlich gleichgeschlechtlich gebusselt, Frau und Mann reichen einander – falls gut bekannt – die Hände. In Mitteleuropa beschränkt sich der Begrüßungskuss unter Männern bisweilen auf Künstler- und Intellektuellenkreise.
Rollen verschwimmen
Die Psychologin Natalia Ölsböck erklärt, was hinter der Bussi-Abneigung der österreichischen Männer stecken könnte: „In jenen Ländern, wo Männer einander zur Begrüßung küssen, gibt es klare Richtlinien, wie sich Frauen verhalten und welche Rolle der Mann einnimmt. Bei uns verschwimmen die Geschlechterrollen, dadurch sind viele verunsichert. So mancher Mann befürchtet möglicherweise, er könnte für homosexuell gehalten werden, wenn er einen Mann zur Begrüßung küsst.“ Unter Künstlern und Intellektuellen herrsche insgesamt eine höhere Toleranz, Liebe zwischen Männern sei nicht schambesetzt – somit auch das Wangenbussi nicht.
"So mancher Mann befürchtet möglicherweise, er könnte für homosexuell gehalten werden, wenn er einen anderen Mann zur Begrüßung küsst."
Die Wurzeln des männlichen Wangenkusses reichen weit zurück: Bereits im Alten Testament ist zu lesen, wie Moses seinen Schwiegervater zur Begrüßung küsst. Der „Judaskuss“, mit dem Judas Jesus beim letzten Abendmahl auslieferte, wurde zum Symbol für Verrat.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen Arbeiter, mit einer Umarmung und drei Küssen auf die Wangen ihre Solidarität zu bekunden. Der „sozialistische Bruderkuss“ zwischen Erich Honecker und Leonid Breschnew ziert bis heute die Überreste der Berliner Mauer.

Mit einem Wangenkuss verriet Judas Jesus an die Hohepriester
Bedrohte Männlichkeit
Durch die Globalisierung hat die Accolade sogar in Japan Einzug gehalten, stellte Thomas Schäfer-Elmayer bei einem Asienbesuch staunend fest. „In dieser Kultur legt man ursprünglich größten Wert auf Distanz.“
Ob das Wangenbussi von Mann zu Mann in Österreich bald den Händedruck als Standardbegrüßung ablösen wird, bleibt fraglich. Trotz verschwimmender Rollenbilder gilt ein fester Händedruck oder bestenfalls eine angedeutete Umarmung mit festem Schulterklopfer als Ausdruck von Männlichkeit.
Wer sich galanter als Sebastian Kurz aus der Affäre ziehen möchte, dem bleibt laut Schäfer-Elmayer nur ein Ausweg. „Grundsätzlich bin ich ein Anhänger von Ehrlichkeit. Aber in diesem Fall hilft vermutlich nur eine Notlüge: ‚Entschuldigung, ich bin leider verkühlt!’“
Arabischer Raum
Zurückhaltung ist oberstes Gebot: Ein Mann schüttelt einer Frau nur dann die Hand, wenn sie sie ihm hinstreckt. Unter befreundeten Männern fällt die Begrüßung inniger aus.
Deutschland
Wangenküsschen nur bei guten Bekannten von Frau zu Frau und Frau zu Mann, sonst Handschlag. Laut Deutsche Knigge Gesellschaft gilt Bussi-Verbot im Büro.
Frankreich
Je nach Region werden zwei bis vier „bises“ auf die Wangen gehaucht, im Süden busseln einander auch Männer. Einen Überblick gibt combiendebises.free.fr.
Italien Italiener scheuen Körperkontakt nicht. Üblich sind zwei „baci“ auf die Wangen, im Süden auch unter Männern.
Japan
Please don’t touch: Üblich ist eine leichte Verbeugung mit geradem Rücken.
Österreich
Siehe Deutschland. Beim Küssen berühren sich erst die rechten, dann die linken Wangen; immer nur unter Freunden oder guten Bekannten.
Schweiz
Unter guten Freunden gibt man sich links, rechts, links ein Küsschen (das Gleiche gilt für die Benelux-Staaten). Die französische Schweiz busselt zwei Mal.
Thailand
Anfassen beim Grüßen ist tabu, erst recht ein Küsschen. Stattdessen verneigen sich Thais mit den Händen vor der Brust – der buddhistische Gruß „Wai“.
USA
Ein Wangenkuss ist nicht üblich, US-Amerikaner bevorzugen eine kurze Umarmung zur Begrüßung.
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