Von der Gewalt und wie wir sie wegkuscheln

Von der Gewalt und wie wir sie wegkuscheln
Nach dem Wiener Akademikerball macht man sich in Linz Sorgen: Dort laden am Samstag rechte Burschen erneut zum Walzer. Proteste inklusive? Anlass, sich mit dem Thema Gewalt näher zu beschäftigen.

Als die Krawalle rund um den Akademikerball in der Wiener Hofburg vor einer Woche ihren Höhepunkt erreicht hatten, fragte eine Demonstrantin via Twitter: „Gewalt ist immer schlecht?“ Und gab sich gleich auch die Antwort. „Das stimmt so einfach nicht. Welches autoritäre System wurde bisher weggekuschelt?“

Von der Gewalt und wie wir sie wegkuscheln
Thomas Roithner, Friedensforscher
Gleich mehrere, entgegnet ihr Thomas Roithner vom Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung und zählt neben den hinlänglich bekannten gewaltfreien Protesten von Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela etliche gewaltfreie Umstürze auf: „Die Rosenkranzrevolution auf den Philippinen im Jahr 1986. Den friedlichen Protest auf Madagaskar in den Jahren 1991/’92 gegen Präsident Ratsiraka. Und natürlich waren auch die Umstürze in Osteuropa 1989 ein Wegkuscheln.“

Gewaltfrei

Friedliche Zeiten? Glückliche Zufälle? Ausnahmen von der Regel? Steven Pinker würde widersprechen. Der Kognitionsforscher von der Universität Harvard kommt in seinem Buch Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit zum Schluss: Wir leben in der friedlichsten Epoche, seit unsere Spezies existiert.

Pinker erklärte nach seinen Recherchen: „Ich hörte von historischen Kriminologen, dass Mordraten in jedem europäischen Land, wo es Statistiken gibt, massiv zurückgegangen sind. Ich hörte von Politikwissenschaftlern: Den Leuten sei kaum bewusst, dass westeuropäische Staaten einander nicht mehr bekriegen. Früher brachen durchschnittlich drei neue Kriege pro Jahr aus. Jetzt ist die Zahl in Europa null.“

Der Kognitionsforscher weiß, dass ihm einiges an Überzeugungsarbeit bevorsteht, um einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, was vielen Historikern klar ist: Gewalt nimmt ab. In Dutzenden Grafiken versucht er, den Trend von den frühesten Gesellschaften der Jäger und Sammler bis heute zu belegen. Pinker vergleicht dabei nicht absolute, sondern relative Zahlen. Er stellt sie ins Verhältnis zur jeweiligen Weltbevölkerung. „Absolute Zahlen sind bedeutungslos, weil die Weltbevölkerung ja zugenommen hat“, sagt er.

Die schlimmsten Taten

Auf Basis seiner Kalkulation präsentierte er eine Liste der 20 schlimmsten Taten, die Menschen je einander begangen haben. „Genozide ziehen sich durch die Geschichte. Während der Kreuzzüge wurde eine Million Juden und Muslime getötet. Die Weltbevölkerung betrug damals ein Sechstel der heutigen. Wenn man das multipliziert, kommt man auf sechs Millionen. Die Invasion von Dschingis Khan, der afrikanische Sklavenhandel, der Fall des Römischen Reiches – all diese Ereignisse kosteten ungeheuer viele Todesopfer.“

Empathie für alle

Folgt man den Theorien des Evolutionspsychologen kommt man unweigerlich zur Frage: Was machte Menschen friedfertiger? Es wird ihnen wohl kaum aus dem Nichts ein Empathie-Modul im Gehirn gewachsen sein, meint Pinker, Mitgefühl hatten sie immer empfunden. Doch ursprünglich war Empathie für Freunde und Familie reserviert. Dass immer mehr Menschen als Empathie-würdige Brüder gelten, ist für den Verhaltensforscher Pinker eine Folge des Zivilisierungsprozesse.

Von der Gewalt und wie wir sie wegkuscheln
M. Lakitsch, Friedensforscher
Maximilian Lakitsch, der am Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung zur Konfliktbearbeitung forscht, gibt Pinker aber nur teilweise recht: Konventionelle Kriege seien tatsächlich zurückgegangen. Anders verhielte es sich bei innerstaatlichen Konflikten: „Da liegt der Gewaltlevel immer noch über jenem von 1945, weshalb man kaum von der friedlichsten Epoche der Menschheitsgeschichte sprechen kann.“

Die gute Nachricht des Friedensforschers: „Demos mit Gewaltszenen wie jene rund um den Burschenschafterball sind bei uns eher die Ausnahme.“ Das spiegelt sich auch in Österreichs Platz im Global Peace Index (siehe Grafik oben). Als Nummer 4 zählt unser Land zu den friedliebendsten Nationen.

Staatliche Gewalt

Dennoch: „Staatliche Gewalt und auch die Gewalt unter Staatsbürgern gehört zum Alltag jede modernen Gesellschaft“, sagt Friedensforscher Lakitsch. Man denke hier nicht nur an Attacken unter ganz normalen Staatsbürgern, sondern auch an die immer wieder auftretende Polizeigewalt in der Abschiebehaft. Stichwort: Bakary J.

Horrorszenario

Andreas Zick vom interdisziplinären Konfliktforschungsinstitut in Bielefeld geht davon aus, dass das Internet zur Heroisierung von Gewalt beiträgt. Amokläufer würden in bestimmten Foren richtiggehend gefeiert. Seine beiden österreichischen Kollegen stimmen zu, beschränken diese Beobachtung aber nicht nur auf das Internet.

Auch Filme tragen das ihre dazu bei. Zombie-Darstellungen oder andere post-apokalyptische Visionen in Filmen und Serien sind derzeit sehr erfolgreich. Dies beruhe aber weniger auf der Heroisierung von Gewalt als auf einem Ausdruck der Sorge um unsere „heile Welt“.

Forscher Lakitsch: „Dazu tragen auch die staatliche Überwachung einfacher Bürger oder die jüngste globale Wirtschaftskrise bei. Eine Welt, die von Fresstrieb-gesteuerten Zombies bevölkert wird, ist auch eine Welt, in der sich niemand mehr der Hilfe seines Nachbarn oder einer Gemeinschaft sicher sein kann, eine Welt, in der sich jeder fernab jeglicher Regeln und Institutionen ums eigene Überleben kümmert. Das erscheint besonders in Zeiten der Krise als ein realistisches Horrorszenario.“

Neurowissenschaftler können heute übrigens durch Experimente im Hirnscanner zeigen, was Sozialarbeiter seit Dekaden predigen: Fürsorge, Achtsamkeit, Erziehung und Bildung sind die wichtigsten Faktoren der Gewaltprävention.

Grafik:

xyz
https://images.spunq.telekurier.at/46-59987631.jpg/50.120.231
grafik/gewalt.pdf
Von der Gewalt und wie wir sie wegkuscheln
joachim bauer
Der deutsche Neurobiologe und Psychiater Joachim Bauer hat aktuelle Erkenntnisse aus Evolutionsbiologie, experimenteller Psychologie und Hirnforschung zusammengefasst und sagt: Aggression ist das Mittel, mit dem Menschen signalisieren, dass ihre Schmerzgrenze überschritten wurde.

KURIER: Wo liegen die evolutionären Wurzeln der Gewalt?

Bauer: Was es unserer Spezies ermöglicht hat, bis in die Gegenwart zu überleben, war nicht Gewalt. Unsere evolutionären Vorfahren waren die Australopitheken. Diese 130 cm großen Geschöpfe mit einem Gewicht von etwa 35 bis 40 kg haben keinen Schrecken verbreitet, sie waren keine Jäger, sondern Gejagte. Die Jagd ist, evolutionär gesehen, eine relativ junge Errungenschaft unserer Spezies. Das evolutionäre Erfolgsticket des Menschen waren Intelligenz und eine überragende Fähigkeit zur Kooperation.

Gehört Gewalt zur menschlichen Natur?

Aggression und Gewalt gehören zur menschlichen Natur, aber nicht im Sinne eines Aggressionstriebes, der eine Erfindung Sigmund Freuds war. Die moderne Hirnforschung gibt Charles Darwin recht, bei dem man einen Aggressionstrieb vergeblich sucht. Stand des Wissens heute: Aggression wird hervorgerufen, wenn Lebewesen körperlich angegriffen werden oder Schmerz zugefügt bekommen. Ein Durchbruch im Verständnis der menschlichen Aggression war, dass die moderne Hirnforschung entdeckte, dass die Schmerzsysteme des Gehirns nicht nur auf körperlichen Schmerz reagieren, sondern auch auf soziale Ausgrenzung und Demütigung.

Gibt es Situationen, in denen Gewalt gerechtfertigt ist?

Aggression folgt immer bestimmten Regeln, sie hat – aus der Perspektive der Täter – einen Sinn. Auch, wenn der nicht immer leicht zu erkennen ist. Das ändert nichts daran, dass wir als Gesellschaft Gewalt nicht akzeptieren können und bestrafen müssen. Aggression ist nur dann legitim, wenn sie verbal kommuniziert wird. Dann – und nur dann! – hat sie die Chance, als soziales Regulativ zu wirken. Wer körperlichen oder sozialen Schmerz erlitten hat, muss seinem Ärger Ausdruck geben können, sonst wird man krank.

Gibt es Unterschiede zwischen ideologisch und höchstpersönlich motivierter Gewalt?

Wichtigste Triebfeder des Menschen ist die Suche nach sozialer Anerkennung und Zugehörigkeit. Das Fatale ist, dass in unseren modernen Zivilgesellschaften viele Menschen – auch Kinder und Jugendliche – kein hinreichendes Maß an sozialer Verbundenheit erleben. Sie werden sehr leicht Beute von Rattenfängern, von links- oder rechtsextremistischen oder islamistischen Gruppen.

Nimmt die Gewalt zu?

Das wird sich erst noch zeigen. Wir leben auf einem Globus der begrenzten und zunehmend knappen Ressourcen. Wer ökonomisch krass benachteiligt ist und im Angesicht von Wohlstand in Armut leben muss, ist ausgegrenzt und entwickelt Gewaltbereitschaft. Wenn es uns nicht gelingt, ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit herzustellen, wird uns die Erde irgendwann um die Ohren fliegen.

Von der Gewalt und wie wir sie wegkuscheln
gfsd

Buchtipp: J. Bauer. „Schmerzgrenze“. Blessing. 19,50 €

„Fortschritt ist nur möglich, wenn man intelligent gegen die Regeln verstößt“, sagte einst der Regisseur Boleslaw Barlog. Die Opposition in Burma las es. In der serbischen Otpor-Organisation, die Milošević zu Fall brachte, kursierte es. Und auch bei den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo gingen Raubdruck von Hand zu Hand: Gene Sharps Handbuch gewaltfreien Widerstandes „From Dictatorship to Democracy“.

Von Gewalt, bewaffnetem Aufstand oder Guerillakrieg hält der 85-jährige Politologe nichts. Das sei genau die Art von Kampf, in dem die Unterdrücker fast immer überlegen seien. Auch Verhandlungen oder Appelle an die Menschlichkeit brächten so gut wie nie das Ende von Unterdrückung.

Sharp setzt ganz woanders an: „Diktatoren benötigen die Mitwirkung der Menschen, über die sie herrschen“, sagt er und rät dazu, dieses Mittun zu unterwandern. Protest, Nichtkooperation, Intervention, Schweigemärsche, Sit-ins, Untergrundmedien, Streiks und Boykotte seien die Nadeln im Fleisch der Mächtigen, die im Laufe der Zeit fruchten.

Heldentum predigt der Vordenker zivilen Ungehorsams allerdings nicht. Viel wichtiger sei es, durch klug gewählte Aktionen den beginnenden Widerstand sichtbar zu machen, ohne den Machthabern offen die Stirn zu bieten. So könnten die Menschen langsam Selbstvertrauen fassen, neue Strukturen aufbauen und den Machtwechsel proben.

INFO: Sharps Handbuch finden Sie online unter https://www.good-reads.com/ebooks/download/1119326.From_Dictatorship_to_Democracy

Kommentare