Vom Junkie zum Youtube-Star zum Autor

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Über 350 Folgen lang hat Sick im Internet vor einer Kamera Geschichten über Drogen, Kriminalität, Gewalt und Gefängnis erzählt. Nun erscheinen die schwierigsten Kapitel seines Lebens in gedruckter Form.

Auf das Knistern der Alufolie folgt ein tiefer Atemzug. Ein Geräusch, das Sick – wie er sich selbst im Internet nennt – für immer mit jenem Tag verbinden wird, an dem er zum ersten Mal in seinem Leben Blech geraucht hat. Ein in der Drogenszene geläufiger Ausdruck dafür, Heroin zu rauchen. Die Substanz wird dabei auf ein Stück Alufolie gelegt und von unten mit einem Feuerzeug erhitzt, wodurch das charakteristische Knistern entsteht. Das Heroin verflüssigt sich und beginnt zu verdampfen. Der Dampf wird mittels eines Röhrchens aus Alufolie inhaliert.

Sick ist 15 Jahre alt, als ihm der große Bruder seines Schulfreundes - der Pole - zum ersten Mal Shore, ein Straßenname für Heroin, zum Rauchen anbietet. Erst viel später erfährt er, worum es sich bei der Substanz eigentlich handelt. Ab diesem Zeitpunkt sollte jedoch jahrelang kein Tag mehr in Sicks Leben ohne die Droge vergehen.

Zwanzig Jahre später

Über zwanzig Jahre später sitzt Sick in Osnabrück in einer WG-Küche an einem grün lasierten Holztisch, hinter ihm stehen eine massive Küchenkredenz und eine große Yucca-Palme. Seine schwarzen Haare sind gründlich geschoren, er trägt ein T-Shirt, das seine tätowierten Arme teilweise freilegt. In der einen Hand hält er eine Zigarette, in der anderen eine Kaffeetasse. Inmitten dieses Settings erzählt der inzwischen über 40-jährige Sick Geschichten aus seinem Leben aus jener Zeit in Hannover, die von Drogen, Gewalt und Kriminalität geprägt war. Zum Beispiel, dass "der Pole", der jüngste aus seiner damaligen Clique, der erste war, der an einer Überdosis gestorben ist.

Dabei lässt sich Sick von zwei vor ihm aufgebauten Kameras filmen. Der Mann hinter diesen lebt in der WG und heißt Paul Lücke. Er ist der Produzent der Webserie "Shore, Stein, Papier", was für "Heroin, Koks, Geld" steht, eine lange Zeit die wichtigsten Parameter in Sicks Leben. Lücke bereitet Sicks Erzählungen zu einzelnen Episoden auf und stellt sie dann auf Youtube. Die beiden haben sich schon einige Zeit gekannt, bevor die Idee zur Webserie überhaupt entstand. Erste Versuche, das Erlebte weiterzuerzählen, startete Sick im Jahr 2005 auf einem Weblog. Es war Lücke, der ihn dazu ermutigte, mehr daraus zu machen.

Die erste Episode von "Shore, Stein, Papier" wurde schließlich Ende 2012 veröffentlicht, nach über 350 Folgen, aufgeteilt auf fünf Staffeln, ging die letzte im Oktober 2015 online, das Jahr, in dem das Format den Publikumspreis beim Grimme Online Award bekommen hat. Produziert wurde die Sendung von der Osnabrücker Firma Redframe, die den Youtube-Kanal "zqnce" betreut, auf dem "Shore, Stein, Papier" nach wie vor aufrufbar ist. Die einzelnen Folgen von "Shore, Stein, Papier", die jeweils fünf bis zehn Minuten dauern, haben mittlerweile bis zu einer Million Aufrufe.

"Shore, Stein, Papier" - das Buch

Schon während der aktiven Zeit von "Shore, Stein, Papier" hat Sick immer wieder angekündigt, ein Buch schreiben zu wollen. Dieses erscheint nun am 4. Oktober in Anlehnung an die vorausgegangene Webserie unter dem Titel "Shore, Stein, Papier. Mein Leben zwischen Heroin und Haft". "Ich habe die schwierigen Kapitel in meinem Leben erfolgreich auf Papier gebracht. Das war gefühlt noch einmal eine Langzeittherapie hinterher", sagt Sick. Vor allem die Beschäftigung mit der Zeit, in der er Kokain konsumierte, sei ihm schwer gefallen und habe ihn deprimiert. "Die unermüdliche Auseinandersetzung mit meiner eigenen Geschichte musste in eine Depression führen“, sagt Sick. Er habe sich diesbezüglich aber ebenso professionelle Hilfe geholt, heute sei "alles im grünen Bereich."

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Neben den Erzählungen, die eingefleischte Fans von "Shore, Stein, Papier" bereits kennen, erfährt man in dem Buch auch was in er Zeit nach den schlimmsten Suchtjahren passiert ist, die mit der Geburt seiner Tochter anbrach, bis zum Beginn von "Shore, Stein, Papier". Die veränderte Erzählweise gewährt außerdem einen anderen Blick auf Sicks Geschichte. Ohne die charismatische Mimik und Gestik, die Sicks Geschichten in Videoform so unterhaltsam und bekömmlich machen, lässt der gedruckte Text Bilder im Kopf entstehen, die nur schwer verdaulich sind. "Das war auch der von mir gewünschte Effekt. Das ist wie beim Tatort: 'Das ist Intro ist noch nicht einmal zu Ende, schon gibt es eine Leiche und erst dann wird die Geschichte aufgerollt.'", sagt Sick in Bezug auf den besonders harten Einstieg des Buches.

Doch wie schafft es ein Ex-Junkie, mit seinen Monologen hunderttausende Menschen zu fesseln? In erster Linie ist Sick ein Typ, den sich irgendwie jeder als Freund wünscht. Er ist einer, der immer eine Geschichte auf Lager hat und weiß, wie man diese so außenwirksam wie möglich präsentiert.

Galgenhumor und tiefe Verletzungen

Wenn Sick in der Folge "Koks ballern #1" aus seiner düstersten Zeit erzählt, in der er sich Koks injiziert hat und sowohl körperlich als auch seelisch dem Tod näher war als dem Leben, ist das für ihn kein Grund, auf Galgenhumor zu verzichten. Während Sick seinen ganzen Körper schüttelt und dabei komisch zuckt, erfährt der Zuseher detailgenau beschrieben, dass ein Fussel in der Blutbahn, unabsichtlich vor dem Spritzen der Substanz in ebendiese geraten, ziemlich ekelhaft ist und auch ziemlich nach hinten losgehen kann. "Das fühlt sich dann wie Elektroschrott an, irgendwie komisch", sagt Sick und lacht süffisant.

Aber nicht immer ist Sick zu Scherzen aufgelegt. In einer der ersten Folgen von "Shore, Stein, Papier" erzählt er von einer einschneidenden Verletzung, die ihm als Jugendlicher widerfahren ist. Im Alter von 13 Jahren zog er mit seiner Mutter von Sindelfingen nach Hannover zu ihrem neuen Freund. Der lässt ihn noch während des Umzugs auf einer Raststation eiskalt wissen, dass er seine Mutter zwar wirklich liebe, er aber nur ein unerwünschtes Mitbringsel sei. Es sollte also nicht lange dauern, bis es in Hannover mit Sicks Drogenkarriere steil bergauf geht. Neben Shore konsumiert er von Ecstasy bis LSD so ziemlich alles, was ihm in die Finger kommt. Um sich das zu finanzieren, dealt er mit Drogen, begeht Einbrüche und Überfälle. Es folgt das erste Mal Gefängnis, dann das zweite, dritte, vierte Mal.

Charismatischer Ex-Junkie

Obwohl das Erlebte für die meisten Zuseher schier unbegreiflich ist, bleibt man gebannt an Sicks Lippen hängen und will wissen, wie es mit ihm und den anderen Protagonisten weitergeht, die Pseudonyme wie "der Ägypter", "der Jugo" oder "der schöne Dekra" haben. Wie Sick wirklich heißt und wovon er lebt, darüber hat er sich im Laufe der Folgen bedeckt gehalten. Von den harten Drogen ist er heute weg, er nimmt aber noch immer täglich Opiatblocker, um den Suchtdruck zu hemmen. "Ich bin wirklich froh, das hinter mir gelassen zu haben, aber einen Rückfall kann man nie ausschließen", sagt Sick.

Zukunftspläne

Anfang nächstes Jahr plant er verstärkt Schulen zu besuchen und dort Aufklärungsarbeit in puncto Drogensucht und Kriminalität zu leisten. Dafür will Sick den Verein Stigma. e. V. gründen. Wichtig dabei ist ihm, den Jugendlichen nicht nur die halbe Wahrheit zu erzählen: "Man muss ehrlich sein, dass diese Dinge schon auch Spaß machen, muss aber auch klar aufzeigen, welche Konsequenzen sie haben", sagt Sick. "In der Prävention macht es keinen Sinn, nur die Hälfte zu erzählen, weil manche Jugendliche vielleicht ja auch schon Erfahrungen mit Drogen gemacht haben." Ein zweites Buch sei ebenfalls in Planung, er wisse auch schon einen Titel, sagt Sick. "Ich muss da aber erst warten, bis manche Angelegenheiten verjährt sind."

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