"Empathie kann man nicht verordnen"
Zwei Mal pro Woche wacht und schläft sie in Meidling. In der von ihr 2004 gegründeten Notschlafstelle VinziRast. Ihr soziales Engagement hat ihr zu einer neuen Lebensqualität verholfen und auch das Gefühl der Ohnmacht verdrängt. Morgen erscheint ein Buch von und über sie.
KURIER: Stehen jetzt abends mehr Flüchtlinge vor Ihrer Tür?
Cecily Corti: Ja. Der Andrang von Schwarzafrikanern, Syrern und Afghanen hat deutlich zugenommen. Einige haben schon Asylstatus, andere warten noch auf ihren Bescheid, alle sind obdachlos. Wir nehmen alle auf. Es gilt bedingungslose Akzeptanz.
Stößt Ihre Initiative auch an die Grenze des Machbaren?
Natürlich. Jeden Tag müssen wir Leute wegschicken.
Macht Sie das ohnmächtig?
Das kommt schon vor. Meine Ohnmacht war ein starker Impuls, dieses Hilfsprojekt zu beginnen. Irgendwann habe ich eingesehen, dass ich die Dinge nur im Kleinen verändern kann. Heute kenne ich auch unsere Grenzen: Wenn wir nirgendwo mehr ein Bett frei haben und jemand fragt, wohin er soll, muss ich ihm sagen, dass ich das leider auch nicht weiß.
Kriegsflüchtlinge müssen in einem der reichsten Länder der Welt auf der Straße schlafen. Was sagen Sie dazu?
So weit sind wir gekommen. Es ist vor allem die Gier und die Angst, der Wohlstand könnte weniger werden.
Auch Ihre Familie musste vor politischer Verfolgung fliehen. Sie waren damals fünf. Wie haben Sie die Suche nach einer neuen Heimat als Kind erlebt?
Vor allem habe ich den Schmerz der Mutter mitbekommen, die jahrelang unseren Vater gesucht hat (Johann Hubertus Herberstein wurde bei Kriegsende 1945 verschleppt und ermordet; Anm.). So lange meine Mutter nahe war, war’s nicht so schlimm, dass wir zu siebent in Zimmer und Küche lebten.
Wie wurde Ihre Familie in Österreich aufgenommen?
Wir waren ja Österreicher. Aber wenn ich gefragt wurde, ob ich zu Hause ein Krönchen trage, dann war das für mich als Kind verletzend. Ich fühlte mich fremd, wollte aber unbedingt dazugehören. So wurde die Familie zu meiner Heimat.
So wie Sie damals empfinden die Flüchtlinge heute. Fehlt uns da das notwendige Mitgefühl?
Ja, ganz sicher. Aber man kann Empathie nicht verordnen. Die Leute müssen das selbst in sich spüren: Dass wir eine Welt sind, und dass wir uns in Europa nicht abschotten können.
Und dass fremde Menschen auch eine Bereicherung sind.
Ihr Mann hat mit seinen Filmen und seiner Stimme im Radio, die so menschlich, klug, so sinnlich klang, mehrere Generationen in diesem Land geprägt. Wie war die Stimme von Axel Corti als Mann, als Vater?
Bestimmend, fordernd. Aber auch zärtlich. Für die Kinder war das sehr schwierig. Immer wieder hat er sie wissen lassen, dass er seine Ruhe braucht. Er war ein Egomane. Aber das haben nur die Allernächsten bemerkt.
Sie haben sich eine Zeit lang getrennt. Warum sind Sie wieder zu ihm zurückgekehrt?
Mich hat ja auch viel von ihm überzeugt: seine Lebenshaltung, seine Fähigkeit, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Das war ein Veränderungsprozess, auch ein Prozess des Nicht-aufgeben-Wollens. Und dann hatten wir Gott sei Dank noch etliche Jahre miteinander, die ganz anders waren, in denen ich unendlich viel gelernt habe.
Wie ist Ihnen das gelungen?
Also für mich ist das heute noch unglaublich berührend, wenn ich das bei Ehepaaren erlebe: Wenn da eine tiefe Achtung vor der Andersartigkeit des anderen ist.
Sie schreiben im Buch über Ihr Ehrenamt bei der VinziRast: "Ich wollte mich einer Herausforderung stellen, die mich dem wirklichen Leben näherbringt." Was ist für Sie wirkliches Leben?
Eben nicht ein Leben, das von der Gesellschaft, der Erziehung, der Kirche bestimmt ist. Ein Leben, in dem ich mir selber auf die Spur komme, in dem auch mein inneres Erleben zum Ausdruck kommt.
Wo gelingt Ihnen das am besten?
Eigentlich in der Begegnung mit den Menschen, die in die Notschlafstelle kommen. Das sind oft Menschen, die keine Fassade haben.
Sie helfen Menschen in Not. Wie sehr hilft das Hilfsprojekt auch Ihnen selbst?
Wenn wir anderen helfen, helfen wir immer auch uns selbst. Das ist nicht neu, man muss sich das nur eingestehen. Mein Leben hat große Bereicherungen erfahren.
Welche konkret?
In der VinziRast kann ich so viel von den Weisheiten, die wir lesen oder hören, üben. Zum Beispiel den Respekt gegenüber anderen. Auch Empathie. Ich habe heute keine Scheu, einem Obdachlosen auf der Straße zu begegnen. Ich habe aber auch keine Scheu, einmal keine Spende zu geben. Und ich habe gelernt: Alles, was du gibst, kann dir niemand nehmen.
1940 als Agnes Cäcilia Herberstein geboren, mit Axel Corti (1933–1993) verheiratet. Seit 2004 leitet Cecily Corti die VinziRast. Ihr Buch ist bei Brandstätter erschienen, 19,90 €.
Ihre Bitte an KURIER-Leser
Gesucht: Ehrenamtliche, die gerne ihr Wissen in der Tischlerei, Näherei oder Radwerkstatt weitergeben möchten. Infos: www.vinzirast.at
Kommentare