Die neue Sehnsucht nach Muße

Müßiggang ist keinesfalls aller Laster Anfang - sondern im Gegenteil eine innere Kraftquelle
Im Urlaub gar nichts zu tun, tut gut - fällt aber schwer. Jetzt erforscht die Wissenschaft das Phänomen.

Ein Mann wie Diogenes wäre heute wohl ein viel belächelter Außenseiter. Der Philosoph, der in einem Fass lebte, frönte dem Müßiggang. Als Alexander der Große den griechischen Denker nach seinen Wünschen fragte, soll dieser nur gesagt haben: "Geh mir aus der Sonne."

So viel Gelassenheit hat der moderne Mensch nicht, steht er doch unter Dauerbeschuss. Während auf dem Smartphone neue Nachrichten aufblinken, checkt er eMails und postet seinen aktuellen Gemütszustand auf Facebook – immer mehr zur gleichen Zeit, immer schneller, immer atemloser. Das stresst und laugt aus. Viele Menschen sehnen sich deshalb nach Muße – vor allem im Urlaub. Dieses Sehnen nach Langsamkeit ist mittlerweile so relevant, dass sich jetzt sogar die Wissenschaft damit befasst. Im deutschen Freiburg wurde nun eigens ein interdisziplinärer Sonderforschungsschwerpunkt eingerichtet.

Ohne Ziel

Geleitet wird er vom Germanisten Peter Philipp Riedl, der Muße so definiert: "Sie bedeutet ein freies Verweilen in der Zeit, ohne dass wir einen Zweck mit unserem Tun verbinden." Um gleichzeitig zu erwähnen, dass dies ein Idealzustand sei, den kaum jemand noch erreicht. Besonders stark leistungsorientierte berufstätige Menschen wünschen sich da manchmal die "gute alte Zeit" zurück, als alles noch etwas langsamer war.

Aber verklären sie da nicht ein Ideal, das es so nie gab? "Sicher", mein Riedl. Gerade im christlichen Abendland habe die Muße kein gutes Image, was sich in einer biblischen Erzählung widerspiegle: "Der Garten Eden war der beispielhafte Ort der Muße, und aus dem wurden die Menschen vertrieben." Eine theologische Konsequenz sei der Satz des Apostels Paulus: "Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen."

Das Abendland hat also eine Tradition darin, die Muße zu skandalisieren. In Sprichwörtern ist dies zur Alltagsweisheit geworden: "Müßiggang ist aller Laster Anfang", ist wohl die bekannteste.

Elitenprogramm

Wenn jemandem Muße zugestanden wurde, dann der Elite. "Das hält unter anderen sozialen Vorzeichen bis heute noch", meint Riedl. Schon in der Antike war den Eliten die schöpferische Muße vorbehalten. Das griechische Wort hierfür ist übrigens "schole", von dem unser Wort Schule kommt. Muße und Bildung? "Das ist ja gerade der Clou", sagt Riedl. "Bei uns wird das Gegenteil propagiert. Wir versuchen, Bildungsprozesse zu beschleunigen." Man denke nur an den Bolognaprozess an Universitäten. Oder daran, dass schon Kindergartenkinder einem "Kurs-Stress" ausgesetzt sind: vom Ballettkurs bis zur Flötenstunde. Sich langweilen, einfach nur schlendern – dafür nehmen sich die Menschen immer weniger Zeit. Und das, obwohl Pädagogen und Neurowissenschaftler wissen, dass das Gehirn Ruhepausen braucht, um Gelerntes zu verarbeiten.

Zeit ist Geld

Was für die Schule gilt, gilt für die Arbeitswelt noch viel mehr. Seit dem Aufkommen des Kapitalismus hat die Muße einen besonders schlechten Stand. Niemand hat das so gut in nur drei Worte gefasst wie Benjamin Franklin – Wissenschaftler, Verleger, Schriftsteller und Staatsmann: "Time ist money" – Zeit ist Geld – , lautete sein Credo. Es ist aktueller denn je. "Der Zeitaspekt, der für die Muße elementar ist, wird hier auf seine konsequente Funktionalisierung hingedacht", sagt Riedl. Also: "Nutze jeden Augenblick, der dir bleibt, um ökonomisch etwas zu maximieren."

Raum für süßes Nichtstun bleibt da nicht. Wenn sich aber so viele danach sehnen, stellt sich nicht nur für die Wissenschaft die Frage: Wie funktionierten unsere Gesellschaft und Arbeitswelt? Kann man diese so organisieren, dass sie nicht nur der Wirtschaft, sondern auch dem Menschen zugute kommt? Lösungen können und wollen die Freiburger Forscher dazu keine beitragen: "Das wäre zu vermessen. Wir könnten mit unserem historischen Wissen allerdings zu dieser Debatte beitragen, damit manches, das aus dem Lot geraten ist, wieder justiert werden kann."

Ein Ansatz könnte sein, "dass wir Arbeit mehr danach bewerten, welche Qualität sie hat, und weniger danach, wie lange jemand im Büro sitzt", so Riedl. "Wir wissen ja, dass die Menschen vor ein paar Jahrzehnten viel mehr Stunden gearbeitet haben. Heute ist die Gesamtarbeitszeit weitaus kürzer." Das Wechselspiel von Arbeit, Freizeit und Muße genauer unter die Lupe zu nehmen, nutze allen: Wirtschaft, Arbeitnehmern, Kindern, Senioren und vielen mehr.

Krank ohne Auszeit

Können Menschen nämlich nicht mehr zur Ruhe kommen, so hat das volkswirtschaftlichen Auswirkungen: Sie werden schneller krank und sterben sogar früher, sagt Psychiater Joachim Bauer, der Teil des Freiburger Forschungsteams ist. "Burn-out und Depressionen nehmen zu." Dass heutzutage psychische Erkrankungen die häufigste Ursache für Frühpensionierungen sind, wundert da nicht.

Der Soziologe Hartmut Rosa beklagt in diesem Zusammenhang die Beschleunigung, die durch die neuen Medien entstanden ist. Multitasking ist das Schlagwort. Doch sind wir damit schneller und effektiver? "Nein", sagt Riedl. "Ich glaube, dass Zeitverdichtung zur Verlangsamung führt. Könnten wir nämlich an einer Sache ruhig arbeiten, würden wir sie zügiger erledigen." Die psychologische und psychosomatische Medizin beschäftigt sich deshalb damit, wie Muße, Kreativität und seelische Gesundheit gestärkt werden können. Eine anerkannte Methode, um abzuschalten, ist die "achtsamkeitsbasierte Intervention". Eine Art Meditation, hinter der aber viel mehr steckt: "Es bedeutet, sich individuelle psychologische Freiräume zu schaffen, um sich dem Stress zu entziehen", sagt Riedl. Die Methode ist auch bei Führungskräften en vogue. "Beim Weltwirtschaftsforum in Davos waren alle Achtsamkeitskurse ausgebucht," erzählt Riedl (siehe Bericht rechts).

Wer zur Muße gelangt, der wird gelassener. Denn wer es schafft, in sich hineinzuhören, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln, kann die Umwelt entspannter betrachten.

Kreative Kraftquelle

Die Gedanken ziellos einfach kreisen lassen, ohne Raum, ohne Ziel: So schöpfen viele kreative Kraft (siehe unten). "Ich lasse es zu, ohne es erzwingen zu wollen, gerade dann kommt mir eine Idee." Das kennt jeder, der schon einmal einen zündenden Einfall hatte, als er gerade nicht am Schreibtisch saß. Dabei ist es nicht unbedingt so, dass sich die Muße einstellt, sobald ich freie Zeit habe. "Schauen Sie sich an, wie viele Menschen selbst ihre Freizeit durchgetaktet haben. Das ist wieder Stress." Auf der anderen Seite müssen Muße und Arbeit kein Gegensatz sein. Wer selbstbestimmt arbeitet, kann auch in einem Zustand der Muße sein. "Das ist zum Beispiel ein Schuhmacher, der hochkonzentriert an seinem Schuh arbeitet, und die Welt um sich herum vergisst", erläutert Psychiater Bauer.

Umherwandern

Die Sehnsucht nach sorglosem Nichtstun kennt man in allen Ländern: In Europa bedeutet es oft, einfach spazieren zu gehen. In China würde man dies mit körperlicher Anstrengung gleichsetzen. Dort ist Muße oft ein geistiges Umherwandern: "Deshalb haben Pagoden einen Ausblick in die Welt."

Wer über die Muße in anderen Kulturen oder in einer anderen Zeit forscht, der "erfährt auch viel über die DNA dieser Gesellschaft", ist Riedl überzeugt.

Info: Lesen Sie morgen, wie Müßiggang die Kreativität berühmter Menschen anregte.

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