Südafrika: Mandelas Vermächtnis

Südafrika: Mandelas Vermächtnis
Wie Nelson Mandela, der heute 100 Jahre geworden wäre, einer schwarzen Hausangestellten ihre Würde zurückgegeben hat.

Edda kam niemals zu spät. Pünktlich um 07.00 Uhr morgens läutete sie am großen schmiedeeisernen Tor, nicht eine Minute früher, nicht eine Minute später. Nur ein Mal in ihrem Leben sollte Edda sich verspäten, da wurde sie am Weg zur Arbeit verhaftet, auf die Polizeiwache gebracht und über Nacht in eine Zelle gesperrt. Edda hatte ihre Identitätskarte vergessen, das war Ende der Achtzigerjahre, es sollte ihr nie wieder passieren. Edda arbeitete als Hausangestellte in jenem Haus, in dem ich Mitte der Neunzigerjahre als Student in Johannesburg in Südafrika bei Freunden von Bekannten für einige Zeit lebte. Nobler weißer Vorort, jedes Haus mit Pool, manche mit Tennisplatz, parkähnliche Gärten, Doppelgaragen mit großen Autos, gesichert mit Alarmanlagen und meterhohen Mauern, gespickt mit Stacheldraht und Glasscherben, die jedes Grundstück zur Festung machten.

Die Bewohner dieser Gegend trugen alle einen Panic-Button an einer Kette um den Hals oder am Handgelenk, eine kleine Fernbedienung, über die sich bei einem Überfall oder Hauseinbruch der private Sicherheitsdienst, mit dem klingenden Namen Eagle Watch, alarmieren ließ. Binnen zwei, drei Minuten, so wurde im Werbeprospekt versprochen, sollte die schwer bewaffnete Privatpolizei bei einem Überfall jedes Grundstück und Haus erreichen. Aber das war in der Stadt mit der bis heute weltweit höchstens Mordrate meistens auch schon zu spät. Es war die Zeit, als sich Südafrika als Rainbow-Nation neu erfand, zumindest wollte das die Welt so glauben.

Nelson Mandela war seit zwei Jahren als Präsident im Amt, der große gesellschaftliche Umbruch, die Millionen neuen Jobs, die Häuser mit fließendem Wasser und Strom, all diese Versprechen waren bei den schwarzen Südafrikanern noch immer nicht angekommen; die jahrzehntelange Apartheid war zwar vom Papier, aber nicht aus den Köpfen gestrichen.

Südafrika: Mandelas Vermächtnis

Arbeiten nur für Weiße

Edda war eine von drei schwarzen Angestellten, es gab noch Jeffrey, den Gärtner, und Amy, die allerdings nur unregelmäßig kam. Edda war damals ungefähr 56 oder 57 Jahre alt, so genau wusste sie das selbst nicht. Sie war eine Tswana aus dem Norden an der Grenze zu Botswana. Neben Tswana sprach sie ein bisschen Zulu, nur schlecht Englisch und ein paar Brocken Afrikaans. Eine Schule besuchte Edda nie. Mit 14 oder 15 Jahren kam sie nach Johannesburg, trat ihre erste Dienststelle als Hausmädchen bei weißen Südafrikanern an.

Über die Jahrzehnte wickelte und fütterte Edda weiße Babys, wusch und bügelte die Kleidung von Weißen, putzte die Bäder und Toiletten von Weißen, pflegte die Gärten von Weißen, kochte für Weiße, holte weiße Kinder von der Schule ab – das alles für ein paar Rand die Stunde, ohne Versicherung, ohne soziales Netz. Nur Sonntag nahm sich Edda frei, da besuchte sie den Gottesdienst.

Edda hatte das freundlichste Gesicht, das man sich nur vorstellen kann. Sie war etwas rundlich und immer akkurat im typisch südafrikanischen Dienstmädchen-Look, ein bläuliches Arbeitsgewand mit weißer Schürze und Kopftuch, gekleidet. Im Haus war sie für die groben Arbeiten zuständig.

Ein Mal die Woche musste sie die schweren Holzböden schrubben, den ganzen Vormittag rutschte sie auf ihren Knien, übersät von großen schwarzen Druckmalen, wie sie nur strenggläubige Muslime auf ihrer Stirn tragen, über die Dielen. Jeder Quadratzentimeter wurde geputzt, um am Schluss alles mit einem speziellen Wachs einzulassen. Das Haus duftete über Stunden wie eine große Bienenwabe.

Opfer von Rassismus

Edda und ich hatten einen denkbar schlechten Start. Ich wollte nicht, dass sie mein Zimmer und Bad reinigte, sagte ihr, dass ich das lieber selber machen möchte, weil es mir unangenehm wäre, mich bedienen zu lassen. Edda schnaubte nur verächtlich, wähnte eine besonders perfide rassistische Attacke von einem weißen Europäer, der sich von einer Schwarzen nicht das Bad und das Zimmer putzen lassen wollte. Es sollte Tage dauern, bis wir uns halbwegs auf einen für beide Seiten akzeptablen Modus verständigen konnten.

Ihr anfängliches Misstrauen sollte dennoch über Wochen andauern. Ihr Tagespensum erledigte Edda wie eine Maschine, nach drei Stunden machte sie eine kleine Pause, kochte sich in der Küche ein Tasse Tee, aß ihr mitgebrachtes Sandwich, das sie in einer silbernen Blechdose aufbewahrte.

Fast jeden Tag fragte ich sie, ob sie nicht mit mir Mittag essen wollte, sie lehnte immer höflich ab, irgendwann war es dann aber so weit, Edda setzte sich zu mir an den Tisch. Es war das erste Mal, dass sie mit einem Weißen zu Mittag essen sollte. Anfänglich war ihr das unangenehm, sie war nervös, hatte Angst, dass die Besitzer früher nach Hause kommen und glauben könnten, dass sie nicht arbeite.

Angst war die einzige Konstante in Eddas Leben. Sie hatte Angst um ihre Enkel, Angst, den Job zu verlieren, Angst, überfallen, ausgeraubt und ermordet zu werden. Nach und nach fasste Edda Vertrauen, begann bei unseren Essen zu erzählen, gab mir Lehrstunden in den dunkelsten Kapiteln der südafrikanischen Geschichte.

Edda erzählte von den bettelarmen Eltern, die sie zum Arbeiten in die Stadt schickten und die sie nie wieder sehen sollte, von ihrem Mann, einem Wanderarbeiter, der alles verdiente Geld vertrank und eines Tages nicht mehr auftauchen sollte, vom Sohn, der bei einem Unfall ums Leben kam, von der Tochter und den Enkeln, ihrem ganzen Stolz.

Sie erzählte von den weißen Mastern, die mit schwarzen Dienstmädchen "böse Sachen" machten, von Männern, die wie Sklaven in Hinterhöfen gehalten wurden, von Dienstherren, die vermeintlich schwarze Diebe wie Tiere jagten und einfach töteten. Sie erzählte von Schlägen, Demütigungen, davon, dass beim kleinsten Fehler kein Geld ausbezahlt wurde und immer wieder von Alexandra, dem Township, wo sie wohnte.

Angst im Township

Alexandra war das einzige Township innerhalb der Stadtgrenze von Johannesburg, damals noch ein Moloch für Zehntausende Afrikaner, die eingepfercht auf engstem Raum in Wellblech- und Bretterbuden hausten, die meisten ohne Wasser- und Stromanschluss, kaum zehn Kilometer von unserem Haus entfernt. Edda berichtete von der Gewalt im Township, von den Verbrechen und Morden, von den vielen Drogen, an denen die Jungen zugrunde gingen, von Aids, von weißen Polizisten, die immer wieder Häuser stürmten, unzählige Personen verhafteten, von denen viele nicht mehr zurückkamen. Sie beklagte sich über den Schmutz und dass man nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße konnte.

Nur ein Mal war sie stolz auf ihr Township, das war Ende der Fünfzigerjahre. Die Einwohner von Alexandra organisierten den ersten erfolgreichen schwarzen Protest gegen das Apartheid-Regime. Die Stadtverwaltung hatte die Preise für Busse erhöht, alle Schwarzen boykottierten daraufhin die öffentlichen Verkehrsmittel, gingen über Wochen zu Fuß, bis die Stadt die Preise wieder senken musste. Es sollte für lange Zeit der einzige kleine Sieg gegen das verhasste weiße Regime bleiben.

Südafrika: Mandelas Vermächtnis

Würde statt Wohlstand

Am Tag, als ich mich von Edda verabschiedete, um nach Kapstadt umzusiedeln, fragte ich sie, was ihr das Ende der Apartheid bis heute gebracht habe, sie putzte schließlich noch immer für Weiße, wohnte im Township, verdiente immer noch kaum Geld. Edda schaute mich mit ihren großen Augen lange an und sagte voller Stolz: "Vielleicht wirst du das nicht verstehen, aber das ist alles nicht wichtig für mich. Wirklich wichtig ist, dass mich niemand mehr ungestraft ,Kaffer nennen darf. Dafür danke ich Mandela bis zum Ende meiner Tage."

Der 1. Februar 1991 war für Südafrika eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Überwindung der Apartheid. Präsident Frederik Willem de Klerk kündigte an, die Rassentrennung abzuschaffen. Jahrzehntelang war die schwarze Bevölkerung diskriminiert und in ihren Grundrechten beraubt worden. Ein Jahr zuvor hat de Klerk Nelson Mandela nach 27 Jahren aus der Haft entlassen, 1994 wurde Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas gewählt. Nach nur einer Amtszeit trat er 1999 zurück. Er starb am 5. Dezember 2013 in Johannesburg. Am 18. Juli wäre er 99 Jahre alt geworden.

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