Straight Edge. Nüchtern aus Überzeugung
Kein Alkohol, kein Nikotin, keine Drogen und auch keine One-Night-Stands. Ein Lebensstil, der in unserer Gesellschaft schon fast utopisch klingt, gehören doch für viele das Feierabendbier, Rauchschwaden im Stammbeisl und unzählige flüchtige Bekanntschaften durch Online-Dating-Apps zum Alltagsbild. Einige Menschen wollen sich jedoch von den Zwängen und Versuchungen der Spaßgesellschaft abgrenzen und befreien, um so zu sich selbst zu finden.
Diese Menschen bezeichnen sich selbst als Straight Edge, was übersetzt so viel bedeutet wie nüchtern einen Vorteil zu haben. Die Bewegung hat ihren Ursprung in den USA der 1980er-Jahre, als der Sänger einer Hardcore-Punk-Band einen Text über die positiven Seiten des Klar-im-Kopf-Seins geschrieben und damit eine Kehrtwende in der bis dahin rauschgeprägten Szene ausgelöst hat.
Vom Punk in den Mainstream
„Ich bin eine Person wie du, habe aber bessere Dinge zu tun, als herumzusitzen und mich zuzudröhnen, mit den lebenden Toten abzuhängen“, sang damals Ian MacKaye der US-Band Minor Threat in dem Song „Straight Edge“, in dem er einen drogen- und alkoholfreien Lebensstil propagierte. Er hatte die Selbstzerstörung, den Selbsthass und die Negativität innerhalb der Punkmentalität satt und löste damit eine Bewegung aus, die bis heute Anhänger findet.
Man selbst sollte sich die Regeln setzen, nicht die Gesellschaft, die einen umgibt. Als Erkennungssymbol bot sich ein X an, das sich Minderjährige bei manchen Konzerten auf den Handrücken malen mussten, um zu signalisieren, dass sie noch keinen Alkohol trinken dürfen.
Es war eigentlich gar nicht MacKayes Absicht, mit dem Lied eine Bewegung zu gründen, er sah seine Songtexte mehr als individuelle Aussagen denn als Verhaltenskodex. Allerdings griffen weitere Hardcore-Punk-Bands den Begriff Straight Edge auf und sorgten dafür, dass sich dieser in der US-amerikanischen Szene festigte und auch auf andere Kontinente ausbreitete.
Zusätzlich zu dem Verzicht auf Alkohol, Nikotin und Drogen spielten in der Entwicklung der Bewegung auch Vegetarismus und der Verzicht auf promiskes Verhalten eine wichtige Rolle. Politische und soziale Ideale komplettieren den Lebensstil, einige Straight Edger engagierten sich für ökologische Ideen, Tierrechte oder im sozialen Bereich – teils ohne Bezug zum Hardcore-Punk, mit dem alles begann.
Respektvoller Umgang
Einige der Personen, die diesen Lebensstil heute verfolgen, haben oft gar nichts mehr mit dessen Anfängen in der Musikszene zu tun. Martina Luke beispielsweise hat keinen Bezug zu Hardcore Punk, verzichtet dennoch seit elf Jahren auf Zigaretten und Alkohol, weil sie sich beweisen wollte, dass sie auch Nein sagen kann und stärker ist als ihre ungesunden Gewohnheiten.
Eine viel bedeutendere Rolle als Gewohnheiten spielen Werte wie Treue, Verantwortung und Rücksicht auf Gesundheit und Umwelt – weswegen viele Straight Edger auch vegetarisch oder vegan leben. Denn Straight Edge zu leben bedeutet auch, respektvoll mit anderen Lebewesen – ob Mensch oder Tier – umzugehen.
Der zwischenmenschliche Respekt ist es auch, warum viele Straight Edger Promiskuität ablehnen. Es soll nicht um Eroberungen gehen, Frauen nicht zu Sexobjekten degradiert werden. Während die einen Sex vor der Ehe komplett ablehnen, ist dieser für andere in einer Beziehung legitim. Der Grundgedanke ist derselbe: Der eigene nackte Körper sei nur für den bestimmt, dem man auch seine nackte Seele zeigen würde.
Skepsis und Unverständnis
Dass diese Lebenseinstellung nicht den gängigen Gesellschaftsnormen entspricht, damit werden Straight Edger des Öfteren im Umgang mit ihren Mitmenschen konfrontiert. Bevor sich Martina Luke mit einem veganen Bistro selbstständig gemacht hatte, war sie Kellnerin und gewohnt, mit den Lokalbesuchern ein Glas Wein oder ein paar Stamperl Schnaps mitzutrinken. Bis sie sich dazu entschied, jederzeit einen klaren Verstand haben zu wollen, um für sich bessere Entscheidungen treffen zu können – und ist damit auch auf Gegenwind gestoßen.
Bei einem Bewerbungsgespräch als Kellnerin wollte sie der damalige Geschäftsführer nicht einstellen, weil sie keinen Alkohol mehr trank. Von solchen Erfahrungen berichtet auch Kathi Hart, die wie Martina Luke auf Alkohol, Zigaretten, Drogen und alle tierischen Produkte verzichtet. „Alkohol zu trinken ist Socialising, überall ist es gang und gäbe“, sagt sie und versichert dennoch, nie wieder in Versuchung gekommen zu sein. Sie sei froh, jeden Morgen fit in den Tag starten zu können, wenn andere verkatert versuchen, diesen irgendwie zu überstehen.
Art von Rebellion
Doch warum entscheiden sich Menschen, die alles haben können, auf einmal dazu, auf gewisse Dinge zu verzichten? „Die Überregulierung des Staates hat auch Widerstand und Trotz als Gegenbewegung gefördert. Straight Edger sind teils sehr große Individualisten, die sich über den Verzicht ihre Identität geben und sich damit ein Stück weit abheben“, sagt Psychotherapeut Peter Stippl und schreibt damit der Bewegung einen revolutionären Charakter zu. Und tatsächlich geben einige Straight Edger als Ziel an, eine Rebellion gegen die destruktive Gesellschaft anzustreben.
„Die Gesellschaft verändern will man immer, wenn man von seinem Lebensstil überzeugt ist“, sagt Kathi Hart. Dennoch drücke sie ihren Lebensstil nicht jedem gleich aufs Aug’. „Die Leute denken nach – wenn sie bereit sind, verändern sie sich auch“, meint die Wienerin, die ein Piercing-Studio betreibt. „Eine Veränderung der Gesellschaft wäre eine Illusion. Ich habe aber gemerkt, dass unkommentiertes Vorleben den Leuten imponiert und sie dadurch beginnen, selbst zu reflektieren“, sagt Jöran Fliege. Der 32-jährige Berliner lebt seit zwölf Jahren den Straight-Edge-Lebensstil, hat sich zusätzlich wie Kathi und Martina dem Veganismus verschrieben – aus Respekt dem Leben gegenüber, wie er sagt.
Er erzählt aber auch, immer wieder auf Unverständnis anderer Menschen zu stoßen, die nicht verstehen, wie man so etwas machen könne, weil alleine auf Alkohol zu verzichten so schwierig sei. „Es ist im negativen Sinne faszinierend, dass Alkoholkonsum unhinterfragt Standard ist“, sagt Fliege. Auch Autor Gerfried Ambrosch, seit einigen Jahren Straight Edge, berichtet von fragenden Blicken, denen er in gewissen Situationen ausgesetzt sei. Der Wiener ist – wie auch Kathi Hart und Jöran Fliege – über den Hardcore Punk zu dieser Subkultur gekommen und hat erst kürzlich ein Buch über diese Musikszene geschrieben. Er empfindet das Betrunkensein als Zeitverschwendung und möchte sich möglichst wenig Gift zuführen.
Die Kontrolle über den eigenen Körper und Geist sowie die positive Grundeinstellung sind Eckpfeiler der Straight-Edge-Bewegung und manifestieren sich im Verzicht bestimmter Substanzen. Dafür ist auch eine große Portion an Disziplin und Selbstbewusstsein vonnöten. Psychotherapeut Stippl empfindet es als wichtig, Ziele zu verfolgen, um diese Disziplin auch aufbringen zu können – wie beispielsweise ein Spitzensportler, der den Olympiasieg vor Augen hat und dafür auf Partys mit Freunden verzichtet.
Dabei ist der Begriff Verzicht per se gar nicht für alle Straight Edger von Relevanz. „Ich verzichte nicht, ich bereichere mich und lehne ab“, sagt Martina Luke und vertritt damit auch die Meinung der drei anderen, die sich für diese Lebensweise entschieden haben. „Verzicht klingt negativ. Es geht vielmehr darum, etwas wegzulassen und durch etwas Besseres zu ersetzen und auch dieses Bessere zu unterstreichen“, versucht der Experte das Phänomen zu erklären.
Gruppendynamik
Ein wichtiger Punkt, warum zu Beginn der Straight-Edge-Ära vor allem viele Jugendliche auf diese Lebensweise gesetzt haben, ist das Gefühl der Gruppenzugehörigkeit. Gerade in der Pubertät machen sich viele Jugendliche Gedanken über ihre Lebenswelten, suchen Anschluss und jemanden, der sie versteht. „Gruppendynamik hat eine bedeutende Rolle: gegenseitige Motivation, Ansporn und füreinander da sein“, führt der Psychotherapeut die Vorteile an.
Auch wenn die Hardcore-Punk-Szene nicht mehr den Stellenwert im Straight Edge hat wie früher, hat sich dennoch eine Gemeinschaft gebildet. Die Online-Community „Straight Edge worldwide“ vertreibt auf ihrer Homepage Kleidung, Uhren und Handyhüllen mit Straight-Edge-Schriftzeichen, einige lassen sich auch ein X oder den Schriftzug tätowieren, um ihre Zugehörigkeit und ihre Ideologie zur Schau zu tragen. Dennoch bleibt dieser Lebensstil ein Randphänomen. Viele Straight Edger gibt es nicht, im deutschsprachigen Raum werden sie auf eine fünfstellige Zahl geschätzt.
Für die vier genannten Straight Edger ist die Gruppendynamik nicht mehr von großer Bedeutung, sie haben sich eine individuelle Lebenswelt nach ihren eigenen Regeln erschaffen. „Kein anderes Leben wäre für mich denkbar“, sagt Kathi Hart. Auch Ambrosch und Fliege wollen ihr Leben weiterhin nach Straight-Edge-Prinzipien ausrichten, Lebensziele sind diese für sie aber nicht. „Ich habe keinen Vertrag bis zum Tod“, meint Jöran Fliege abschließend und betont dennoch, niemals wieder die Kontrolle über sich selbst verlieren zu wollen.
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