Freundschaft zwischen zwei Buchdeckeln

Freundschaft zwischen zwei Buchdeckeln
Bis die Flüsse aufwärts fließen, bis die Hasen Jäger schießen, bis die Mäuse Katzen fressen, werd’ ich dich nicht vergessen! Seit 481 Jahren beschwören sie die immerwährende Freundschaft. Eine Schau thematisiert nun die aussterbende Form.

Heute ist es eine globale Angelegenheit. Ganz ohne Selbstgedichtetes und Staub. Trotzdem kann jeder darin blättern und zusammen mit 100.700.000 anderen der Freund von Shakira sein: Facebook ist das Freundschaftsalbum des 21. Jahrhunderts. Modern ist, wer digital dokumentiert, wen er kennt, was er mag, was er hört, liest, isst.

Doch wer meint, dass der Austausch von Lebensweisheiten, Widmungen und guten Ratschlägen erst seit der Erfindung von Facebook im Jahr 2004 so richtig modern geworden ist, irrt. Freundschaftsbücher gibt es seit mehr als 450 Jahren. Und genauso lange schmücken sich Menschen mit den Einträgen von Promis: Es gibt Alben, in denen sich Galileo Galilei, Johannes Kepler, Gotthold Ephraim Lessing oder Johann Wolfgang von Goethe verewigt haben. Ludwig van Beethoven führte gar selbst ein Stammbuch.

Im Wiener Volkskundemuseum erinnert bis 22. November eine Ausstellung an Stammbücher und Poesiealben aus zwei Jahrhunderten (Denk an mich! www.volkskundemuseum.at).

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Alles begann in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts im deutschen Wittenberg, wo man Widmungen oder Lebensweisheiten einfach an den Buchrand kritzelte: "Damals war es üblich, dass die Anhänger der Reformation bei den berühmten Theologen um Einträge in Bibeldrucke ersuchten. Aus dem Jahr 1534 gibt es einen von Martin Luther. Er lässt die nächsten Seiten für andere frei. Das gilt als Anfang des Stammbuches, erfüllt es doch alle Kriterien – eine persönliche Widmung, Ort und Datum und mehrere Eintragende", sagt die Volkskundlerin und Ausstellungskuratorin Nora Witzmann, die sich intensiv mit dem Alborum Amicorum, dem Poesiealbum, dem Stamm- und Freundschaftsbuch oder welchen Namen es im Laufe der Zeit noch getragen hat, beschäftigt hat.

Und weil Wittenberg eine berühmte Uni hatte, die Studenten aus ganz Europa anzog, erfasste der Stammbuch-Trend schon um 1540 andere Kreise und Länder. "Einer der Studenten war der österreichische Adelige Christoph von Teuffenbach", erinnert sich Kuratorin Witzmann. 1548 legte er sich ein Stammbuch zu und nahm es später auf seine Bildungsreise nach Frankreich und Italien mit. Nach seiner Studienzeit verstaubte es, wurde aber später auf einer Reise nach Konstantinopel reaktiviert.

Wer mit wem

Professoren, Juristen, Ärzte, Diplomaten hatten Stammbücher. Aber auch Kaufleute, wandernde Handwerker und Reisende verbreiteten die Sitte über weite Teile Europas – bis nach Skandinavien und auf die Iberische Halbinsel.

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Witzmann: "Wer sich bei wem eingetragen hat, wurde zur Statusfrage. Es war ein Netzwerk." Stammbuch-Forscher haben festgestellt, dass bevorzugt Höhergestellte um Einträge gebeten wurden. Die Selbstdarstellung der Besitzer stand im Mittelpunkt. Prominente Einträge oder kunstvolle Bildbeigaben mehrten das Renommee. Die Einträge wurden zum beliebten Mittel, Bildung, Status oder vermeintliche charakterliche Dispositionen bzw. weltanschauliche Überzeugungen so festzuhalten, wie man gesehen werden wollte.

Kommt Ihnen bekannt vor? Gewisse Dinge ändern sich anscheinend nie.

"Ab 1550 kamen Illustrationen dazu, die von professionellen Malern gestaltet wurden. Man hat sich also verewigt und musste das Bild dazu zahlen. Das waren Kunstwerke, die bereits früh gesammelt wurden", erzählt die Kuratorin.

Frauensache

Lange war das Stammbuch fest in Männerhand, doch ab dem ausklingenden 18. Jahrhundert wurde es zur Frauensache – und zum Poesiealbum; Blumen, Verse, Schönschrift, schwärmerische Liebe, Locken und Haarstickereien inklusive. Die Pflege der Freundschaft galt als oberste Tugend. Das Biedermeier lässt grüßen. Poesiealben und Stammbücher sind für Volkskundler also auch aufschlussreiche Zeugnisse für politische und gesellschaftliche Veränderungen. "Texte und Illustrationen ließen eine idyllische Wunschwelt entstehen", meint Witzmann, ganz dem Biedermeier-Zeitgeist entsprechend. Das gefiel so sehr, dass im 19. Jahrhundert die erste Massenproduktion für Poesiealben entstand, vielfach handkoloriert und mit vorgedruckten Sprüchen.

Mit dem neuen Jahrhundert verschwanden Poesie, Kreativität und der Schwur auf die immerwährende Freundschaft. Die Alben wurden zur Domäne von Schulkindern, die Einträge weniger emotional: Statt persönlichen Gedichten gab es vorgefertigte Sprüche. Wer jetzt meint, dass das Stammbuch in der digitalen Welt vollends ausgedient habe, irrt: Es erlebt als Freundebuch derzeit in manchen Schulen Wiens einen regelrechten Boom – unter Buben wie Mädchen. Das hat man einfach. Wie die elfjährige Fanziska. Sie besitzt drei. Eines für jeden Lebensabschnitt (Kindergarten Volksschule, Gymnasium). Statt Gedichten werden in vorgedruckte Steckbriefe, Geburtsdaten, Lieblingsspeisen und Hobbys – "in Schönschrift" – eingetragen. Das ist so spannend, dass mitunter Abends daraus vorgelesen wird, erzählt Franziska. Und weil auch die Adressen drinnen stehen, erspart sie sich das Adressbuch.

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Stammbuch Poesiealbum
Gabriele Kuhn, Ressortleiterin Lebensart, erinnert sich: Papa fehlt, das fällt mir auf, wenn ich heute mein Stammbuch durchblättere. Hat es etwas damit zu tun, dass er meinen 15. Geburtstag nicht mehr erlebt hat? Keine Ahnung. Stattdessen hat sich der Seppi verewigt: „Bin in Afrika. Zwischen Speck und Paprika, Wenn mich auch die Neger fressen, dich werd’ ich nie vergessen.“ Der Spruch würde heute für einen Shitstorm in den Sozialen Medien sorgen, damals war’s eine Art Liebeserklärung unter Zehnjährigen. Was aus dem Seppi geworden ist? Keine Ahnung. Was ich hingegen immer noch weiß: Dass das Stammbuch seinerzeit eine Art Beliebtheitsmesslatte war. Je mehr Herzerln, Sprüche und Pickerln, desto wow. So betrachtet, ist mein dunkelbraunes, goldverbrämtes Büchlein das Facebook der 70er.
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Stammbuch Poesiealbum
Axel Halbhuber, Redakteur Lebensart, über seine Stammbücher: 30 Jahre später ist Dreierlei festzuhalten: Schon Zwölfjährige können weise sein („Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“), den Irrsinn des Lebens erkennen („Lebe glücklich, werde alt, bis die Welt in Stücke knallt“) oder Phrasen wie „weiterer Lebensweg“ verwenden, um gescheit zu klingen. Zweitens: Vor 20 Jahren war fast jeder Freund genug, um es ins Poesiealbum zu schaffen. Eigentlich wie bei Facebook. Ich fand es als Teenager z. B. cool, dass sich der Vater eines besten Freundes verewigt – damals wie heute ein sehr bekannter Landeshauptmann. Aber „im Alter werden Freunde selten, drum die Du hast, die lasse gelten.“ Drittens: „Lebe glücklich, lebe heiter, küsse Mädchen und so weiter.“
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Stammbuch Poesiealbum
Sandra Lumetsberger, Redakteurin Lebensart, hatte zwei Stammbücher: „Alle meine Freunde schreiben in dieses Buch“ – der Titel des Stammbuchs war harmlos, der Hohn für manche Einträge gnadenlos: von unmöglichen Traumberufen (Astronaut, Ballerina) über cool-uncoole Musik (Take That, Brunner & Brunner, Kelly Family) bis zu jenen, die sich in kindlicher Ehrlichkeit sogar als Uschi-Glas-Fans outeten. Doch der Spott von gestern sind die herzlichen Erinnerungen von heute. Zum Gymnasiums-Eintritt 1998 bekam ich ein Poesiealbum und meine Sitznachbarin, die ich erst wenige Wochen kannte, schrieb mir, was man halt so schrieb: „Der beste Weg, Freunde zu gewinnen, ist, selbst ein guter Freund zu sein.“ Dieser gedankenlos-naive Spruch machte uns zu besten Freundinnen. Bis heute.

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