Sozialdebatte: Vom tiefen Fall aus der Mittelschicht

Empört sich nun öffentlich: Neo-Buchautorin Evelyne Kwas
Eine Autorin fühlt sich von der Politik alleine gelassen. Ihre Situation berührt, auch der Sozialexperte sieht Handlungsbedarf.
Von Uwe Mauch

Ihre Fingernägel sind gepflegt und lackiert, die modische Brille passt zum dunklen Sommerkleid. Die schmucke Bauernstube ihres Einfamilienhauses vermittelt den Eindruck von Geborgenheit und einem gewissen Wohlstand. Doch der erste Eindruck in einer ebenso schmucken Gemeinde im Bezirk Neunkirchen trügt. "Ich bin empört und traurig", erklärt Evelyne Kwas im Gespräch mit dem KURIER. Es fällt ihr dann nicht ganz leicht, aber sie sagt es: "Das Haus haben mein Mann und ich unseren Kindern überschrieben, weil wir uns die Erhaltung alleine nicht mehr leisten können."

Mit 50 plus arbeitslos

Die Mittfünfzigerin zählt zu jener Generation, über die Direktoren vom Arbeitsmarktservice und wahlkämpfende Politiker nur sehr ungern reden. Was Evelyne Kwas dazu bewogen hat, ihre Empörung in einem Buch festzuhalten.

Sozialdebatte: Vom tiefen Fall aus der Mittelschicht
Österreich / Breitenau / Juli 2017 Eveline Leopodine Kwas © Michael Appelt
Sie hat ebenso wie ihr Mann seit der Schulzeit immer brav gearbeitet, mehrere Jahre als Filialleiterin namhafter Modeketten. Doch als sie 50 wurde und in ihrer Firma unter Mithilfe der Politik die Arbeitszeit verlängert wurde, musste die täglich mit dem Zug aus dem südlichen Niederösterreich einpendelnde Angestellte passen: "Ich habe das nicht mehr verkraftet, habe bemerkt, dass meine Gesundheit auf dem Spiel steht."

Weil ihr der Arbeitgeber keinen Schritt entgegen kommen wollte, hat sie sich einvernehmlich getrennt und den Weg zum Arbeitsamt angetreten. Dort habe man ihr keinen einzigen Job vermitteln können, und weil auch ihre 300 Bewerbungen unbeantwortet blieben, machte sie sich selbstständig.

Natürlich gibt es sie, die supererfolgreichen Quereinsteiger, die nach vielen Jahren als Angestellte mit ihrer großen Leidenschaft eine Firma gründen und damit glücklich werden. Doch Evelyne Kwas muss der Hochglanz-Idylle der Wirtschaftskammer ihre Lebensrealität entgegensetzen. In Neunkirchen hat sie einen kleinen Laden eröffnet, der für ältere Menschen wunderbare und vor allem leistbare Alltagshilfen anbietet. "Wenn das Geschäft gut geht, können wir die Strom- oder Wasserrechnung begleichen." Doch es geht nicht immer gut.

"Ich bin immer gerne ins Kaffeehaus gegangen", sagt sie dann. "Aber heute kann ich mir oft den kleinen Braunen nicht mehr leisten." Der Erlagschein geht vor. Verhungern würden ihr Mann und sie nicht. "Zum Glück kann ich noch kochen, aber wenn du dir nur mehr die Billigmarken leisten kannst, ist die eine Hälfte der Kartoffeln nach 15 Minuten kochen noch immer steinhart – und die andere zerfällt zu Brei."

Es ist ein Phänomen, das österreichische Soziologen bereits in den 1930er-Jahren beschrieben haben: Wer unverhofft verarmt, hängt das nicht an die große Glocke. Evelyne Kwas, der es als Verkäuferin nie schwer gefallen ist, auf die Leute zuzugehen, sagt plötzlich verschämt: "Sie können sich das vielleicht gar nicht vorstellen. Aber es ist schon so: Dass ich mit Ihnen rede, kostet mich viel Kraft. Sie glauben gar nicht, wie ich mich geniere."

Soziale Absturzgefahr

"Das persönliche Risiko, einen sozialen Abstieg zu erleiden, ist heute größer als noch vor ein paar Jahren", erklärt dazu Martin Schenk von der Armutskonferenz. Glück im Unglück: Österreich genießt im Vergleich zu anderen europäischen Ländern diesbezüglich eine Sonderstellung: "Es fällt auf, dass die Haushalteinkommen insgesamt stabil bleiben. Diese Sonderstellung führt Schenk auf die vergleichsweise höheren Sozialstandards in Österreich zurück: "Ohne die noch bestehenden Sozialleistungen wären viel mehr mittlere Haushalte stark abstiegsgefährdet." Auch die zuletzt gestiegene Erwerbsquote der Frauen hilft: "Dadurch sind auch die Haushaltseinkommen höher."

Der Sozialexperte erklärt außerdem, dass die bekannten Probleme wie nicht leistbares Wohnen, prekäre Jobs und chronische Krankheiten von der Politik dringend gelöst werden müssten.

Armut ist in jedem Fall auch in der Mittelschicht ein relativer Begriff: Evelyn Kwas kann sich nicht erinnern, wann sie zuletzt mit ihrem Mann auf Urlaub war. Und sie hofft, dass die Elektrogeräte in ihrer Bauernstube nicht den Geist aufgeben.

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