Was sich jetzt am Schulsystem ändern muss
Heute ist im Osten Österreichs Zeugnistag. Zeit, auch dem Schulsystem und der Bildungspolitik Noten zu geben. Da kann es nur ein Urteil geben, nachdem die Bildungsreform zu scheitern droht – es lautet: "Nicht genügend." Geben auch Sie Ihre Meinung am Ende des Artikels ab.
Verbesserungsbedarf sehen auch viele Menschen aus Wirtschaft, Schule und Wissenschaft, die der KURIER an den Runden Tisch gebeten hat: Christoph Neumayer von der Industriellenvereinigung, Bildungspsychologin Christiane Spiel, NMS-Direktorin Erika Tiefenbacher und der Obmann des Vereins Wirtschaft für Integration Georg Kraft-Kinz. Der ruft angesichts der aktuellen Ereignisse dazu auf "neuen Mut zu gewinnen. Wir müssen die Bildungsreform angehen. Wir müssen wissen, wo wir hin wollen und eine Strategie entwickeln, wie wir das Ziel erreichen. Dazu müssen wir das Rad nicht neu erfinden."
Reform von unten
Was passieren muss, ist aus Sicht der Wissenschaft klar, so Spiel: "Es braucht mehr Verantwortlichkeit. Alle Schülerinnen und Schüler sollten bis zu einem Bildungsminimum gebracht werden."
Auch Erika Tiefenbacher ist nicht zufrieden. Sie fragt sich, "wie viel Privatinitiativen es noch braucht, dass sich das System verändert." Doch ohne geht es nicht. Neumayer: "Eine Bildungsreform kann es nur geben, wenn man die seit Jahren bekannten Baustellen angeht. Und wenn alle Kräfte aus Politik, Praxis und Zivilgesellschaft gemeinsam an konstruktiven Lösungen und am ,Neustart Schule‘ arbeiten. Auch wenn sich der Verhandlerkreis der Bildungsreformkommission verändert hat – eine bildungspolitischen Neukonzeption bleibt nötig. Jetzt aufzugeben wäre eine Bankrotterklärung."
KURIER: Wie gerecht ist unser Bildungssystem?
Christiane Spiel: Da muss man zuerst festlegen, was man unter Gerechtigkeit versteht. Meiner Ansicht nach muss es ein Bildungsminimum für jeden geben. Dieses muss es einem jungen Menschen ermöglichen, einen Beruf zu ergreifen und – ganz wichtig – sich am politischen System zu beteiligen. Die Daten aus den Bildungsstandards zeigen, dass das Risiko für ein Kind, dieses Minimum nicht zu erreichen, dann besonders hoch ist, wenn es aus einer bildungsschwachen Familie kommt und mit anderen in einer Klasse ist, die ebenfalls aus sozial schwachen Familien stammen.
Erika Tiefenbacher: An meiner Schule konzentrieren sich die Ärmsten und Schwächsten unserer Gesellschaft, deren Eltern nicht das leisten, was AHS-Eltern ermöglichen – nämlich persönliche Unterstützung oder Geld für Nachhilfe. Ich würde mir da eine bessere Durchmischung wünschen: ein Drittel Kinder, die etwas aufholen müssen, ein Drittel Durchschnitt und ein Drittel geförderte Schüler. So kann ich etwas bewegen. Da lernen alle voneinander.
Beim Thema Gemeinsame Schule preschen die Vorarlberger vor. Der richtige Schritt?
Christoph Neumayer: Sie funktioniert, wenn man es richtig macht und die Ressourcen zur Verfügung stellt. Wir sind glücklich, dass die Vorarlberger das angehen. Diese Signalwirkung war wichtig. Wir dürfen nicht selektieren, sondern müssen alle Kinder mitnehmen. Dazu braucht es größtmögliche Autonomie und innere Differenzierung. Dazu muss man Lehrer aber befähigen zu unterrichten. Derzeit sind sie zu viel mit Administration beschäftigt.
Der Kindergarten würde mehr Chancengerechtigkeit schaffen.
Neumayer: Elementarbildung ist Bildung – das ist immer noch nicht in den Köpfen. Die Pädagogen sind zu schlecht bezahlt, wir haben zu wenig Männer in den Kindergärten. Wir brauchen eine bessere Ausbildung, mehr Qualität Und ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr für alle.
Zurück zur Schule. Viele fordern mehr Autonomie für die Standorte. Was bringt diese?Tiefenbacher: Ich hätte gerne die Flexibilität, Schwerpunkte zu setzen, Fächer und Stoff so einzuteilen, wie es sinnvoll wäre – unabhängig von Schuljahr und Stundenplan. Schön wäre auch, wenn sich die Schulleitung für die schulischen Schwerpunkte ihre Pädagogen aussuchen könnte. Auch Lehrer sollen ihren Standort wählen könnten. Diese Autonomie ermöglicht es, auf spezielle Situationen zu reagieren: Wenn ich plötzlich viele Kinder aus dem Ausland habe, müsste ich Deutschkurse errichten. Im Herbst, wenn Schüler Lebensläufe schreiben müssen, sollten wir zur individuellen Förderung Ressourcen verwenden, die wir ab Jänner anderwärtig nutzen. Wir brauchen innerhalb der Schule mehr Spielraum.
Spiel:Gut wäre, wenn am Standort entschieden werden könnte, welche Unterstützung die Schule braucht – abhängig von der Zusammensetzung der Schüler. Autonomie bedeutet Verantwortung, auch für die Qualitätssicherung: Die Direktion muss dafür sorgen, dass z. B. Mindeststandards erfüllt werden. Ohne Autonomie geht das nicht. Dazu wäre auch ein mittleres Management nötig und ein Budget, um z. B. Sozialarbeiter "zukaufen" zu können.
Tiefenbacher: Die Schulen wären sicher viel kreativer, wie sie Schüler zu besseren Leistungen bringen können.
Kraft-Kinz: Wir haben als Unternehmen viele Standorte, wo Menschen klar definierte Verantwortung haben. In der Schule kann ein Direktor nur verwalten, nicht gestalten. Wir müssen den Führungspersonen endlich eine Führungsrolle geben. Wir reden aber über Nichtführung, wenn ich höre: "Du kannst dich von einem Lehrer, der nicht performt, nicht trennen." Bei uns kann ein Standortleiter einen Mitarbeiter entlassen. Daraus entsteht Stärke. Die mangelnde Autonomie hat Folgen fürs Schulsystem: Wir bauen ständig Stiegen ohne Geländer und die Kinder fallen herunter. Wir müssen Kinder lustvollere Möglichkeiten geben zu lernen. Dazu braucht es Manager in den Schulen.
Spiel: Es gibt Lehrer, die wenig wertschätzend mit Schülern umgehen, manche traumatisieren sogar Kinder. Diese prägen leider stark das Bild der Lehrerschaft. Das ist ein Thema, mit dem man sich auseinandersetzen und das man angehen muss.
Neumayer: Wir müssen eine Infrastruktur schaffen, damit Lehrer Leistung bringen können. Das fängt bei den Arbeitsplätzen für Lehrer an.
Kraft-Kinz: Wir stehen in der größten Revolution nach dem Krieg – der digitalen Revolution. Für die Schule heißt das: Wir brauche Co-working-Spaces. Doch zeigen Sie mir den Direktor, der das Geld hat, nach Berlin zu fahren, um dort Start-ups anschauen! Das gibt es nicht. Woher soll der Lehrer also sein Wissen über diese Revolution haben? Die Frustration in Schulen ist deshalb enorm. Wenn ich denke, unter welchen Rahmenbedingungen die Wirtschaft arbeitet und unter welchen die Schule, bin ich überrascht.
Neumayer: Wichtig wäre mir, ein neues Jahresarbeitszeitmodell. Das Rechnen in Stunden bringt nichts.
Ist die Zentralmatura sinnvoll und gut umgesetzt?
Spiel: Grundsätzlich brauchen wir sie. Wir wissen, dass Schüler gleicher Leistung in verschiedenen Schultypen sitzen und unterschiedlich benotet werden. Jetzt haben wir mehr Transparenz. Was wir noch einführen sollten, wären Mindeststandards.
Kraft-Kinz: Zentrale Tests sind internationaler Standard. Für grob fahrlässig halte ich, die Schulpflicht mit 14 Jahren zu beenden. Ziel muss sein, dass man Schule erst dann verlässt, wenn man die Grundlagen beherrscht.
Neumayer: Nötig ist ein Mindestmaß an Transparenz. Es wäre hilfreich, die Daten zu veröffentlichen. Und: Die externe Evaluierung sorgt dafür, dass Schüler und Lehrer ein Team bilden, um gemeinsam ein Ziel zu erreichen.
Tiefenbacher: Logisch, dass Kinder lesen, schreiben, rechnen können müssen. Wir leben in einer vernetzten Welt. Wir sind keine Schule der reinen Wissensvermittlung mehr. Es geht darum, Zusammenhänge zu erkennen und zu erklären.
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