Ein fast unentdecktes Tal in Vorarlberg: Auf Gipfeltouren im Großen Walsertal
Nein, mit der Überschreitung der 1.873 Meter hohen – oder soll man sagen: niedrigen? – Wangspitze wird man nicht zum Star in den sozialen Medien. Erstens gibt es schon am Startpunkt in Buchboden kein Handynetz. Zweitens kennt den Gupf kaum ein Mensch. Sogar weit gereiste Bergfreunde haben mitunter Probleme, das Große Walsertal auf einer Karte zu finden. Nein, es liegt nicht im Schweizer Kanton Wallis, obwohl die Walser von dort einwanderten; und nein, es ist nicht die Fortsetzung des Kleinwalsertals, sondern die Heimat von gut dreieinhalbtausend Menschen, die in dieser ruhigen Ecke Vorarlbergs mit ihren extensiv bewirtschafteten Alpen und karstigen Höhenzügen leben, ein bisschen eingeklemmt zwischen Bregenzerwald, Arlberg und Rheintal.
Das heißt nicht, dass man an der Wangspitze keiner Menschenseele begegnet. Etwa, wenn man beim Abstieg in der Alpe Matona einkehrt, wo Emanuel und Kathrin Stark mit ihrem Sohn sowie zwei Hirten im Schüler-Alter den Sommer verbringen. Urig geht es hier zu. Auf den Tisch kommt, was selbst produziert oder mit Ross und Wagen auf den Berg transportiert wird. Matona ist das Gegenteil einer für Touristen herausgeputzten Vorzeige-Hütte. Hier wird mit den Kühen, Ziegen und Hühnern gearbeitet und gelebt. Wer sich als Besucher zu benehmen weiß und nicht den Schlaumeier aus der großen Stadt heraushängen lässt, bekommt auch einen Enzian spendiert.
Weisheiten der Walser
Oder man begegnet kurz oberhalb der Alpe einem wie Franco: lange Haare, einen alten Rucksack auf dem Rücken, an den Füßen Sandalen mit Lederriemen, sonst gerne auch barfuß unterwegs. Er erzählt von seiner Zeit als Skilehrer am Arlberg, wo er Babysitter gut situierter Gäste war. Persönliche Tiefpunkte ließen ihn, der aus Au im Bregenzerwald stammt, zum Aussteiger werden, ohne Krankenversicherung und doppelten Boden. Bevor wir uns verabschieden, gibt er einen Ausdruck seiner eigenen Heilslehre mit. Einiges klingt wirr. Und es wäre ein Leichtes, sich darüber lustig zu machen. Aber man versteht seine Botschaft: weniger ist mehr, materieller Reichtum macht nicht glücklich.
Franco passt mit dieser Philosophie gut ins Große Walsertal mit seiner besonderen Geschichte. Im 14. Jahrhundert wanderten hier auf Einladung des Grafen von Montfort Älpler aus dem Wallis ein. In seinem Auftrag kontrollierten sie die Pässe, durften sich im Gegenzug zumindest eine Zeit lang freie Bauern nennen und mussten nur wenig Zins bezahlen. Jahrhundertelang lebten sie fast gänzlich abgeschieden. Es entstanden eine eigenständige Kultur, ein eigenständiger Dialekt, sogar eine eigene Lebensphilosophie. Bis heute sagt man den Walsern große Freiheitsliebe nach. Als andernorts der Tourismus aufblühte, erlebte das Tal eine der größten Lawinenkatastrophen der neueren Zeit. Im Januar 1954 starben allein in Blons 57 Einwohner den weißen Tod. Es wurde damals laut darüber nachgedacht, das hintere Tal komplett für die Besiedelung aufzugeben. Heute erinnert ein Lawinen-Dokumentationszentrum an diese dunklen Tage.
Wer eine intakte Natur- und Kulturlandschaft erleben will, ist im Großen Walsertal genau richtig. Rund vier Dutzend Alpen sind im Sommer bewirtschaftet, auf etwa zwei Dutzend wird gekäst. Für eine zünftige Brotzeit bei den Touren auf die Zweitausender reihum ist also gesorgt.
Anreise
Mit dem Zug nach Bludenz und weiter mit dem Bus: vorarlberg-alpenregion.at/de/walsertal/anreise-mit-bus-bahn.html
Wohnen
www.alpenresort-walsertal.at
Essen
Alpengasthof Bad Rothenbrunnen – viel Geschichte im ehemaligen Heilbad!
Nicht versäumen
Bergsteigerdörfer und Tourismus im Walsertal
Tatsächlich war das Tal für Autos noch bis Mitte der 1980er-Jahre eine Sackgasse. Als endlich die neue Straßenverbindung über das Faschina-Joch hinüber in den Bregenzerwald eröffnet werden sollte, blockierte Pater Nathanael von der Propstei St. Gerold mit seinen Haflingern das neue Asphaltband und zeigte den Honoratioren symbolisch den Stinkefinger. Er befürchtete, dass das Tal zur Bühne für Auto- oder Motorradrennen verkommen könnte – ein früher Klima-Kleber sozusagen.
Einer, der das alles miterlebt hat, ist Wanderführer Gebhard Küng. Während des Aufstiegs zur Kellaspitze erzählt er, dass es im ganzen Tal lediglich am Faschina-Joch und in Sonntag-Stein kleine Skigebiete gebe, dass touristische Projekte immer wieder mit Argwohn betrachtet wurden. Die Walser wählten einen anderen Weg. Das Tal wurde vor mehr als zwanzig Jahren der erste UNESCO-Biosphärenpark Österreichs. Weltweit gibt es davon siebenhundert in hundertzwanzig Ländern – international repräsentative Regionen, in denen nachhaltige Entwicklung gelebt wird. Ob das Siegel verdient ist, wird alle zehn Jahre überprüft.
Wanderführer Gebhard findet, der Park habe die Schätze im Tal erst so richtig gehoben, die Walser in ihrem sorgsamen Umgang mit der noch artenreichen Natur bestärkt, den Stolz auf die Traditionen geweckt. Deshalb passe es auch gut, dass das gesamte Tal mit seinen sechs Gemeinden seit 2008 in den Kreis der vom Alpenverein anerkannten Bergsteigerdörfer aufgenommen wurde. Klingt alles paradiesisch? Ist es natürlich nicht immer. Viele Bauern könnten von ihren Produkten allein nicht leben. Sie sind auf staatliche Zuschüsse für ihre Arbeit als Landschaftspfleger angewiesen. Und Hoteliers, die investiert und sich verschuldet haben, hätten gewiss auch nichts gegen mehr Touristen einzuwenden.
- Wangspitze (1873 m): einfach (T 2-3), 5-6 Std., ca. 1000 hm, 13,8 km
Charakter: Gemütliche Rundtour mit Einkehr-Optionen in die Kernzone „Gadental“ des Biosphärenparks
Ausgangs- und Endpunkt: Buchboden (910 m)
Route: Buchboden (910 m) – Lutzachbrücke (884 m) – Rinderer Alpe (1242 m) – Wangalpe (ca. 1500 m) – Wangsattel (1750 m) – Wangspitze (1873 m) –Alpe Matona (1673 m) – Gadenalpe (1317 m) – Gasthaus Bad Rothenbrunnen (1010 m) – Buchboden
Einkehr: Alpengasthof Bad Rothenbrunnen, Alpe Matona
- Kellaspitze (2017 m) mittel-anspruchsvoll (T4), 6 Std., ca. 1050 hm, 11,5 km
Charakter: Steiler Latschenkopf, dessen Gipfelanstieg durch Drahtseile entschärft wurde
Ausgangs- und Endpunkt: Marul (976 m)
Route: Marul (976 m) – Stafelfeder Alpe (1472 m) – Bettlerstapfen (1660 m) – Kellaspitze (2017 m) – Marul
Einkehr: Stafelfeder Alpe (1472 m)
Medien
KOMPASS-Wanderkarten-Set Nr. 292 „Vorarlberg“ (2 Karten) 1:50.000; Herbert Mayr: „Brandnertal mit Großem Walsertal und Klostertal“, Rother Wanderführer
Zusammenhalt im Tal
Wenn man sich an den Drahtseilen zum Gipfel der Kellaspitze hinauf gehangelt hat, genießt man den Ausblick: Bregenzerwald im Norden, Arlberg im Osten, Rheintal mit Alpstein im Westen, Rätikon im Süden. Wie unterschiedlich doch die Entwicklung in diesen Regionen verlaufen ist. Am hinteren Ende des Großen Walsertales liegt Faschina, wo große Hotels im Winter viele Stammgäste beherbergen, die im nahen Damüls in die Skischaukel des Bregenzerwaldes einsteigen. Einige, die weiter unten im Tal ebenfalls vom Tourismus leben, blicken neidvoll nach Faschina. Sie finden, vom Titel „Bergsteigerdorf“ oder „Biosphärenpark“ kann man sich wenig kaufen. „Urlaub im Einklang mit der Natur“ klingt eben einfacher, wenn man beim Alpenverein angestellt ist. Es ist eine andere Geschichte, wenn man als Unternehmer verantwortlich für seine Mitarbeiter ist. Würden diese ihre Jobs verlieren, müssten sie jeden Tag hinaus ins Rheintal pendeln – und das wäre gewiss nicht nachhaltig. Im Großen Walsertal ist es jedoch Tradition, dass alle zusammenhalten. Die Chancen stehen deshalb gut, dass die sechs Dörfer ihren Weg in die Zukunft behutsam, aber nicht dogmatisch gehen werden. Dass man auf den Gipfeln, die Tälispitze, Glatthorn, Zitterklapfen, Löffelspitze oder Türtschhorn heißen, zwar Menschen, aber keinen Menschenmassen begegnet.
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